Die Toten Vom Karst
Nicoletta, würde sich ihr Leben verändern. Sie wollte weg von hier und endlich aus dem verdammten Käfig ausbrechen. Sie war zweiunddreißig und konnte sich Besseres vorstellen, als sich Abend für Abend nach der Arbeit lange zu duschen, um den Fischgeruch loszuwerden. Es gab auch Besseres, als die nächsten fünfzig Jahre in Triest zu verbringen. Der Mann aus Bergamo gab ihr Hoffnung.
Als sie ihren Vater darum bat, die illegalen Transporte ihr zuliebe zu übernehmen, protestierte er nur kurz. Am Ende ihrer Überzeugungsarbeit entwarfen sie zusammen den Plan. Ihre gemeinsame Rache bestand darin, daß sie den Vater von Manlio Gubian dazu brachten, das fehlende Glied der Kette in Kroatien zu spielen. Er sollte die Ware in internationalen Gewässern an Marasi weitergeben. Ugo gefiel die Idee schon deshalb, weil er davon überzeugt war, daß Gubian jedesmal, wenn er in der Nacht seinen Kutter an der »San Francesco« festmachte, befürchten mußte, daß Marasi ihn umbringen würde, so wie er es vor vielen Jahren geschworen hatte. Und Manlio, seinen Sohn, hatten sie in der Hand. Mit dem Wissen Nicolettas würde er alles verlieren. Um so mehr, als Manlio seit einigen Jahren ein angesehener Geschäftsmann geworden war.
In Nicolettas Kopf sausten diese Bilder wie in einem Zeitraffer vorbei. Ihre bitteren Gedanken an Manlio Gubian dauerten nicht länger, als der Polizist mit der schönen Begleiterin brauchte, um die ersten Schritte in die Hauptgasse zu tun, die vom Kirchplatz hinauf zum Friedhof führte. Nicoletta wartete noch, bis die Menschen aus der Kirche kamen, sich allmählich hinter den Sargträgern formierten und mit langsamen Schritten losgingen.
Der Trauerzug nahm die Gasse, die Contovello hügelwärts durchschnitt. Als er näher kam, suchte sich Laurenti einen Platz abseits, von dem er den kleinen Friedhof überschaute. Dort, zwischen den alten Grabmalen an der anderen Seite, würde er die Trauergemeinde kaum stören. Man hatte einen schönen Ausblick auf den Golf von Triest von dieser Stelle. Ein Grab mit Blick aufs Meer, dachte er, das wärs.
Es war enorm, wie viele Menschen von der Familie Gubian Abschied nehmen wollten. So langsam füllte sich der Friedhof, von Überblick war keine Rede mehr. Wo war eigentlich Živa Ravno geblieben? Noch bevor der ganze Trauerzug auf den kleinen Totenacker gefunden hatte, begann der Pfarrer mit der Grabrede. Neben ihm der alte Gubian, ein Bild des Jammers. Zwischen den Köpfen der Trauernden ragten die Fernsehkameras wie Fremdkörper hervor. Was gab es eigentlich zu zeigen, außer trauernden Menschen? In dem Moment, als man endlich die Särge hinabließ, als alle schwiegen und nicht einmal mehr ein Vogelstimmchen sich über die schneebedeckten Gräber unter der blauen Sonne erhob, klingelte Laurentis Mobiltelefon. Schrill, unangemessen, lächerlich. Und komischerweise schienen alle zu wissen, in welcher Tasche sich das Ding befand. Natürlich der Polizist. Laurenti antwortete mit einem tiefen Knurren.
»Proteo, du mußt sofort nach Opicina!« hörte er Mariettas morgendliche Stimme.
»Weshalb?«
»Kundschaft. Ein mysteriöser Toter an der Foiba von Monrupino.«
Es gab keine freie Stelle zwischen den Gräbern, über die er, ohne die Zeremonie zu stören, verschwinden konnte. Überall standen die dunkel gekleideten Menschen. Er wandte sich um, doch hinter ihm kam nach wenigen Metern die Friedhofsmauer. Die Art und Weise, wie sich Laurenti schließlich den Weg zum Ausgang bahnte, glich einer billigen Komödie: zertretene Gräber, tausend geflüsterte Entschuldigungen, empörte Gesichter. Aber mit Höflichkeit und Brutalität hatte er es schließlich geschafft. Er ging die paar Schritte zum Dorf hinunter und rief Sgubin an.
»Wir müssen weg! Ein Toter in Opicina.«
»Ich komme«, sagte Sgubin leise.
»Wo bist du?«
»Auf dem Friedhof.«
»Na dann, viel Glück!« Laurenti kramte, während er auf dem Dorfplatz wartete, eine halbzerknüllte Packung MS aus seiner Jackentasche. Die Zigarette war zerknickt, doch drei Züge vor dem Filter gab sie wohl noch her. Als Sgubin endlich kam, hatte er sie schon ausgetreten.
In der Kälte von Opicina
Ein verrostetes gelbes Schild mit schwarzer, teilweise abgesplitterter Schrift wies den Weg: »Foiba di Monrupino N° 149, Monumento d’interesse nazionale – 0,45 km«. Sgubin bremste stark und der Fiat holperte an einem Gesperrtschild vorbei auf den Schotterweg.
»Langsam, Sgubin«, stöhnte Laurenti. »Es läuft uns
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