Die Toten Vom Karst
im ehemaligen Jugoslawien ausbrachen. Slowenien und Kroatien hatten ihre Unabhängigkeit erklärt, und es kam zu ersten Scharmützeln mit der jugoslawischen Armee. Ab dieser Zeit veränderte sich in Triest der Strom illegaler Güter über die Grenzen. Waffenlieferungen, oft genug aus der Schweiz gesteuert, mußten in die andere Richtung auf den Balkan gebracht werden. Meist waren es Kleintransporte mit Lieferwagen und Autos, die anfangs noch fast ungehindert über Land- und Seeweg in die Nachbarländer fuhren, bis die italienischen Behörden die Situation in den Griff bekamen und bei der Ausfuhr ein Auge auf das warfen, was bei der Einfuhr auf der anderen Seite gerne übersehen wurde. Dann kam der Tag, an dem Manlio, der seit einiger Zeit über mehr Geld als zuvor verfügte, Nicoletta bat, mit ihrem Vater sprechen zu dürfen. Er redete lange auf sie ein, erzählte von seinem Vater und seiner Angst, daß der Krieg auf Istrien übergriffe, wenn die kroatische Armee bei Dubrovnik, in der Kraijna und in Slawonien unterläge, und daß man dann auch in Triest nicht mehr sicher sein könnte. Er erzählte Nicoletta mit großem Ernst, daß er deshalb für die Organisation arbeitete, die die Transporte vor Ort organisierte. Ihren Vater aber wollte er dafür gewinnen, die Lieferungen zu übernehmen und sie in internationale Gewässer zu transportieren. Manlios Vater sollte die Waffen auf See übernehmen und nach Kroatien bringen.
Das Treffen wurde zu einer Katastrophe, von der Nicoletta sich nie wieder erholte. Sie verlor ihre Fröhlichkeit und das Vertrauen in andere. Ugo Marasi hatte Manlio freundlicher begrüßt, als sie erhofft hatte. Sie hatte ihrem Vater gebeichtet, daß sie seit zwei Jahren mit Manlio zusammen sei. Anfangs hörte Ugo sich die Worte des jungen Mannes an und verstand seine Sorge um Istrien. Er war schon fast soweit, zuzustimmen, als er Manlio nach seinem Familiennamen fragte.
»Gubian. Manlio Gubian«, antwortete er bereitwillig.
Ugo Marasis Blick verfinsterte sich.
»Wie heißt dein Vater?« Seine Stimme hatte sich schlagartig verändert und hatte einen Tonfall angenommen, der auch Nicoletta fremd war.
»Antonio.«
»Verschwinde!« Marasis Blick sprühte plötzlich Haß und seine Hände zitterten. »Verschwinde, habe ich gesagt. Sofort! Wage dich nie wieder unter meine Augen und laß meine Tochter in Frieden. Und du«, herrschte er seine Tochter an »du, bleibst hier! Ich habe mit dir zu reden, Flittchen!«
Manlio zögerte.
»Hau ab!« schrie Ugo nochmals.
»Papà!« Nicoletta versuchte zu protestieren. Schneller als sie denken konnte, wurde sie durch die unerwartete Wucht seiner Ohrfeige zu Boden geschleudert. Niemals zuvor hatte Marasi seine Tochter geschlagen.
Nicoletta wagte nicht, aufzustehen und einfach wegzugehen. Sie schwieg wie ihr Vater und wartete nervös.
»Du hast das Schlimmste getan, was du tun konntest«, sagte der Vater schließlich mit leiser, stockender Stimme. »Du hast mir den Sohn eines Mörders ins Haus gebracht. Den Sohn des Mörders meiner Schwester, deiner Tante.«
Sie zitterte am ganzen Leib, als er mit seiner Erzählung zu Ende war. Aus ihrer Liebe war Haß geworden. Ein unbändiger Haß. Sie war sich sicher, daß Manlio sie nur benutzt hatte.
Vor zwei Jahren, als Nicoletta wie so oft in den letzten Jahren, in Lipizza, zehn Kilometer hinter der Grenze, im Casino am Black-Jack-Tisch spielte, lernte sie den Mann aus Bergamo kennen, den sie schon öfters hier gesehen hatte, obgleich seine Stadt fast fünfhundert Kilometer entfernt lag. An jenem Abend im April spürte sie eine Pechsträhne und beschloß, eine Pause zu machen, an die Bar zu gehen und einen Espresso zu trinken. Der feingliedrige Mann neben ihr sprach sie an, und Nicoletta ging an jenem Abend nicht mehr an den Spieltisch zurück. Sie wußte nicht, woher er sie kannte. Ein paar Tage später trafen sie sich wieder, weitere Verabredungen folgten, und nach einer Weile fühlte sich Nicoletta mehr und mehr von ihm angezogen. Er war der erste Mann, der nach Jahren einen Platz in ihrem Leben fand. Sie dachte an ihn auch während der Arbeit und hoffte, daß es niemand bemerkte. Eines Tages erzählte er ihr auch von Geschäftlichem und forderte sie auf, einzusteigen. Der Gewinn, den er versprach, war höher als der Zeitvertreib am Spieltisch und das Risiko gering. Nicoletta rechnete kühl. Nur fünf Jahre mußte sie die Sache machen, dann könnte sie den Laden schließen. In fünf Jahren, rechnete
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