Die Toten Vom Karst
Abstand.
*
Sie war nicht weiter aufgefallen und hatte sich auch nicht im geringsten versteckt. Den Kragen ihrer schwarzen Jacke hochgeschlagen, schwarze Hosen und einen schwarzen Hut auf dem Kopf mit dem kurzen schwarzen Haar, unterschied sie sich nicht von der Mehrzahl der männlichen Trauergäste. Nicoletta Marasi blieb während der ganzen Zeremonie alleine und wechselte mit niemandem neben sich einen Blick oder ein Wort. Sie hatte das Polizeiaufgebot ohne Aufregung gemustert, den Kommissar kannte sie aus dem Fernsehen. Sie stand keine zwei Schritte von ihm entfernt und hörte sogar, über was er sich mit dieser schönen, jungen Frau mit dem deutschklingenden Akzent unterhielt. Sie hatte am Abend vorher beschlossen, zur Beerdigung zu gehen, als sie die Meldung darüber im Fernsehen, am Ende der Lokalnachrichten, hörte. Sie wollte dieses Kapitel ihres Lebens abschließen, in dem sie mit ansah, wie der Sarg Manlio Gubians in die Grube hinabgelassen und allmählich mit Erde bedeckt wurde. Sie hielt einen Strauß weißer Chrysanthemen in der Hand, den sie als letzte am Grab niederlegen würde. Manlio Gubian war endlich tot. Sie hatte es sich schon viel früher gewünscht.
Sie lernten sich kennen, als sie 22 Jahre alt war. Zufällig. Auf der »Sagra« in Aurisina, wo sie mit ein paar Freundinnen hingefahren war. Die Weinfeste der Karstgemeinden begannen im Juni und dauerten bis in den Herbst. Auf dem Hochplateau über dem Meer war es kühler und die Sommerhitze erträglicher. Unter alten Bäumen auf dem Dorfplatz waren Bänke, Tische aufgestellt, eine große Tanzfläche und das Podest für die Kapelle aufgebaut. An den Buden, die den Platz säumten, wurden Karstweine ausgeschenkt und preiswerte Cevapcici, Koteletts oder fritierte Hühner und Käse angeboten. Die Weinfeste zogen seit je die Menschen aus der ganzen Umgebung an, und brachten willkommene Abwechslung in das Leben im Dorf. Essen, Trinken, Tanzen. Und tanzen konnten hier oben alle Menschen. Die Musik wechselte von der Samba zum langsamen Walzer, vom Rock’n’Roll zum Tango, von der Rumba zur Polka. Es gab keine Altersgrenzen, doch die Siebzigjährigen tanzten besser als ihre Enkel. Man sprach vorwiegend slowenisch, die Angebote an Speisen und Getränken standen zweisprachig angeschrieben, und so wurde auch die Ansprache des Bürgermeisters stets zweimal gehalten und langweilte doppelt.
Sie saßen zufällig am gleichen Tisch. Er saß ihr schräg gegenüber und unterhielt sich lebhaft mit seinen Freunden. Manlio war einige Jahre älter als sie und beachtete sie nicht, aber sie hatte ihn gleich bemerkt. Nicoletta war keine Schönheit. Sie war groß, hatte breite Schultern, kleine Brüste und auffallend kräftige Hände, aber funkelnde Augen und glänzende schwarze Haare und ein fröhliches, helles Lachen.
Die jungen Männer rissen lautstark Witze und schlugen vor Lachen mit den Fäusten auf den Tisch. Mit einer wilden Armbewegung stieß Manlio die Rotweinflasche um. Nicolettas weißes Kleid war ruiniert. Sie sprang auf, schaute bestürzt an sich herunter, und als sie das ganze Ausmaß dieser kleinen Katastrophe begriff, war ihr zum Heulen zumute. Obgleich der junge Mann eilig mit einem Stapel Papierservietten die Weinpfütze auf dem Tisch zu stoppen suchte und verlegen stammelte, wie leid es ihm täte, gab sie ihm eine schallende Ohrfeige. Nicoletta wurde schützend von ihren Freundinnen umringt, während Manlio sich die Wange rieb und nicht wußte, wie er reagieren sollte. Nicolettas Freundinnen schimpften mit Manlio und forderten ihn auf, seine Adresse aufzuschreiben, denn das Kleid müsse er bezahlen. Dann zogen sie ab.
Als Nicoletta ihn eine Woche später anrief, verabredeten sie sich auf ein Eis am Viale XX Settembre, wo sie ihm die Rechnung präsentieren wollte. Nicoletta trug ein neues, makellos weißes Kleid. Er war rührend um sie bemüht, entschuldigte sich mehrfach und bezahlte selbstverständlich ihr Eis. Sie verabredeten sich erneut, damit er ihr das Geld geben konnte, für ihn fast ein halber Monatslohn. Dafür hatte sie ihn dann ins Kino eingeladen. Und nachdem sie sich vier-, fünfmal in der Stadt gesehen hatten, wagte er, Nicoletta auf den Karst einzuladen, zur nächsten Sagra. Zwei Jahre lang hielt sie vor Vater und Mutter geheim, daß sie ihren ersten Freund hatte. Manlios Vater lebte in Istrien, und sein Sohn sah ihn nur in den Ferien. Auch er ahnte nichts.
Im Herbst 1991 war man auch in Triest sehr besorgt, als die Kämpfe
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