Die Toten Vom Karst
als in all den Jahren zuvor. Er war eine Woche mit Freunden durch die Koronaten gesegelt, und Laura war in San Daniele bei ihrer Mutter gewesen, um vor der Hitze zu flüchten, die sich im August windstill über Triest legte. In diesem Jahr waren sie nicht einmal zusammen ans Meer gegangen. Laura packte morgens ihre Badetasche, während Proteo sich auf den Weg zur Arbeit machte, und war abends schon zu Hause, wenn er aus dem Büro kam. Da er auf sein tägliches Bad aber nicht verzichten wollte, ging er dann an seinen Lieblingsplatz schwimmen und las noch ein wenig auf den sonnenwarmen Felsen. Laura ging abends häufig ins Freilichtkino oder suchte andere Veranstaltungen unter freiem Himmel auf. Meistens kam sie viel später nach Hause, kroch ins Ehebett, als er längst schlief. Laura konnte es sich erlauben. Sie war selbständig, und im Sommer hatte das Versteigerungshaus, an dem sie beteiligt war und sich um die Abteilung Kunst und Bücher kümmerte, ohnehin keine Veranstaltungen. Die Töchter kamen aus Berlin und Neapel nur für zwei Wochen nach Triest, und Sohn Marco war ohnehin ständig mit der Clique unterwegs und ließ sich während seiner Schulferien kaum blicken. Er hatte einen Ferienjob gefunden und arbeitete halbtags an der Tankstelle am Campo Marzio. So trödelte jedes Mitglied der Familie Laurenti für sich durch den Sommer. Nur Proteo ging morgens ins Büro und schlug die Zeit mit alten Fällen tot. Der Sommer war, abgesehen von der rasant zunehmenden illegalen Einwanderung, gottlob ruhig geblieben.
Der Questore hatte ihm im Juli mitgeteilt, daß es in absehbarer Zeit Veränderungen geben würde und die Stelle seines Stellvertreters bald neu besetzt würde. Endlich käme Proteo Laurenti an die Reihe und sollte im nächsten Frühjahr Vize-Questore werden. Bisher war er lediglich der Stellvertreter des Stellvertreters, obgleich er seinem Rang nach diese Position anderswo längst hätte haben können. Er hätte sich in eine andere Stadt berufen lassen können, aber ein Abschied vom ruhigen Triest mit dem hohen Freizeitwert war unvorstellbar. Der Blick aufs Meer erzeugte in ihm kein Fernweh, wie es andere behaupteten. Das Meer gab ihm Ruhe und den Wunsch dazubleiben, immer nur aufs Wasser zu blicken. Und selbst wenn er einen Ortswechsel vorgeschlagen hätte, wäre der Protest der Familie unüberwindbar gewesen.
Er erinnerte sich, daß Laura, als er ihr die gute Nachricht mitgeteilt und vorgeschlagen hatte, schön essen zu gehen, lieber ins Kino gehen wollte. »›Das große Fressen‹, mit dem unwiderstehlichen Michel Piccoli«, hatte sie gesagt. Also hatte Proteo Laurenti an diesem Abend alleine gefeiert. Da hatte es begonnen! Er war bitter enttäuscht, und als Laura in der Nacht nach Hause kam, stritten sie heftig.
»Unsere Leben laufen auseinander, Laura!« sagte er beleidigt.
»Wie meinst du das?« fragte sie wenig freundlich.
»Ich meine, daß ich heute abend alleine feiern mußte, weil meine Frau es vorzog, ins Kino zu gehen und auch sonst sich ständig mit anderen vergnügt, nur nicht mit mir.«
»Ich werde doch auch mal mit jemand anderem ausgehen dürfen, ohne mich dafür rechtfertigen zu müssen.«
»Darum dreht es sich nicht. Du bist einfach nie da.«
»Aber ich bin doch da. Hier! Hier neben dir im Bett.«
»Du weißt genau, was ich meine!« Er setzte sich mit einem Ruck auf. »Red nicht mit mir, als wäre ich ein kleines Kind und halt mich nicht zum Narren. Diesen Sommer haben wir nichts zusammen unternommen. Wir waren noch nicht einmal gemeinsam am Meer!«
»Oh, mein Gott, Proteo!« Sie hatten sich die Rücken halb zugedreht und beide sprachen mehr zur Wand als zum anderen. »Ein Vierteljahrhundert haben wir das gemacht. Da darf man doch wohl auch einmal was anderes tun. Was ist daran schlimm?«
»Ich rackere den ganzen Tag für die Familie und wenn ich nach Hause komme, ist niemand da. Das ist nicht in Ordnung, Laura! Ein bißchen Zuneigung darf man von seiner Frau wohl erwarten!«
»Erwarten?« Sie fauchte ihn an. »Zuneigung kann man nicht erwarten, die kommt oder kommt nicht! Und für die Familie arbeite ich genauso wie du! Vaffanculo, Laurenti!« Sie schnappte ihr Bettzeug und stand auf.
»Wo gehst du hin?«
»Ich schlafe nicht neben einem beleidigten, kindischen Idioten.« Sie ging in Patrizias Zimmer, ließ aber die Schlafzimmertür offen stehen.
Proteo Laurenti schäumte vor Wut. Er rannte hinter ihr her ins Zimmer seiner Tochter. »An diesem Punkt haust du wieder einmal
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