Die Toten von Bansin
war das noch? â Jedenfalls ging das Mädchen zum Ufer und sammelte Muscheln und flache Steine in einen kleinen Eimer. Den stellte sie neben den Jungen und blieb dann eine Weile stehen und sah dem Kind zu, das völlig in sein Spiel vertieft war.
Nach einiger Zeit, Manfred war inzwischen zurückgekommen, hatte das Mädchen herübergelächelt. Manfred trank aus einer Wasserflasche und sah dem kleinen Jungen beim Spielen zu. Das ältere Mädchen lief nun schnell in Richtung Rettungsturm, drehte sich noch einmal um, aber der Junge war so vertieft, dass er sie gar nicht mehr beachtete.
Fünf Minuten später hatte Manfred mit dem Fuà im Sand gebohrt und war an eine Bierflasche gestoÃen. »Musst du denn jetzt schon am helllichten Tag in aller Ãffentlichkeit saufen«, hatte er sie angefahren, sie spürt noch heute, wie sehr sie das verletzt hat. Nach einem erregten Wortwechsel hatte Manfred wütend seine Sachen zusammengesucht und war nach Hause gegangen.
Sie blieb zurück, trank die Flasche leer, die ihr Mann ausgegraben hatte. Und dann aus Trotz noch die dritte. Als sie begann, ihre Umgebung schon leicht verschwommen zu sehen, legte sie sich in den Schatten ihres Windschutzes, bedeckte ihr Gesicht mit einer Zeitung und schlief ein.
Für einen Moment blitzt ein Gedanke in Christine Jahn auf, es ist mehr ein Schreck, ein Verdacht â aber dann ist ihr der Zusammenhang schon wieder entglitten. Sie blickt zu ihrer Tasche, aus der ein ungewohntes Geräusch dringt. Vorsichtig öffnet sie sie und sieht hinein. Sie erkennt das Smartphone sofort und wagt nicht, es anzufassen. Selbst als das Display wieder dunkel ist, starrt sie das Gerät noch fassungslos an. Wird sie wahnsinnig?
Als jetzt ihr eigenes Handy, das auf dem Nachttisch liegt, klingelt, glaubt Christine einen Moment lang, jemand würde anrufen, um ihr die Situation zu erklären. Vielleicht ist alles ein schlechter Scherz?
Sie muss sich räuspern, bevor sie völlig verängstigt ihren Namen herauspresst. »Jahn? Wer ist denn da?« Dann lässt sie den Apparat fallen und presst ihre Hand vor den Mund. Sie weià nicht einmal, ob es eine Männer- oder Frauenstimme war, sie klang so unheimlich verzerrt, aber der Hass war deutlich zu spüren: »Du hättest aufpassen sollen! Warum hast du nicht aufgepasst?«
Sonntag, 11. November
Christine Jahn schläft noch, als ihr Mann das Haus verlässt. Er hat bis zum Morgen im Internet gepokert. Danach war er zu aufgekratzt, um schlafen zu können. Er hat ein Bad genommen, dann einen Tee getrunken und versucht, etwas zu lesen. Als sich der Hund von seinem Lager erhebt und zur Tür geht, sieht er auf die Uhr. 8 Uhr, genau die Zeit, zu der er an jedem Morgen mit dem Tier hinausgeht. In der Woche lässt er den kleinen Terrier meist nur in den Garten, aber am Sonntag gönnt er ihnen beiden einen ausgiebigen Spaziergang. Bei jedem Wetter geht er die gleiche Strecke: etwa zwei Kilometer am Strand entlang, dann eine Treppe hoch und oben auf der Steilküste zurück.
Heute herrscht dichter Nebel. Er hört das Wasser schon leise plätschern, bevor er es sieht. Manchmal kann er den Hund nicht sehen, aber das macht ihm keine Sorgen, der läuft nicht weit weg und kommt immer gleich, wenn er ihn ruft.
Manfred geht immer dicht am Wasser entlang, dort wo der Sand nass und fest ist. Manchmal muss er zur Seite springen, um einer kleinen Welle auszuweichen. Aber die See ist heute ruhig. Unter seinen Schuhen knirschen Muscheln und kleine Steine, hin und wieder kläfft der Hund, wenn er eine Möwe aufscheucht. Sonst ist es still. Er kann die Steilküste nicht sehen und muss aufpassen, dass er nicht an der Treppe vorbei geht. Kurz davor liegt ein groÃer Stein dicht am Wasser, den müsste er eigentlich sehen. Aber vielleicht liegt der heute auch in der Ostsee, der Strand ist relativ schmal durch den hohen Wasserstand. Manfred geht etwas langsamer und sieht sich aufmerksam um. Seinem Empfinden nach könnte er schon zwei Kilometer gelaufen sein. Aber der Nebel verändert alles, auch das Zeitgefühl. AuÃerdem fröstelt ihn, er ist ziemlich übermüdet.
Manfred Jahn ist erleichtert, als er den groÃen Felsbrocken direkt vor sich am Ufer sieht. Er geht nach links, pfeift dem Hund, der fröhlich angesprungen kommt, und stapft durch den losen, feinen Sand, bis er den steilen Abhang vor sich sieht. Hier geht es sich schlecht, es
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