Die Toten von Crowcross
besuchten, konfrontierten uns sogar mit dem Gerücht, Crowcross sei eins von mehreren Scheinprojekten, die das Verteidigungsministerium eingerichtet habe. Wollten wir ihnen Glauben schenken, war Crowcross einer von sechs oder sieben ähnlichen Standorten, die nie wirklich als Nuklearbasen vorgesehen waren . Es handele sich im Prinzip um Attrappen, erklärten sie, bewusst dazu aufgebaut, Protestierer anzuziehen, während die eigentlichen, ernsten Vorkehrungen andernorts getroffen wurden, gut versteckt in bereits existierenden, bestens bewachten militärischen Einrichtungen. Bis heute weiß ich nicht, ob sie recht hatten. Sicher, in Crowcross ist nichts gebaut worden, aber vielleicht ist das ja auch der Erfolg unserer Proteste (nach Claires Tod kam es zu einer zweiten Protestwelle, die zeitweise sogar kraftvoller war als die in Greenham). Ob wir am Ende tatsächlich nur gegen Potemkinsche Dörfer zu Felde gezogen sind, wird sich erst erweisen, wenn die geheimen Materialien über jene Zeit eines Tages der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, immer angenommen, dass diese Materialien bis dahin nicht »verloren gegangen«, »gesäubert« oder ganz offiziell geschreddert worden sind.
Claire, die Tochter der Revolution, hatte natürlich gleich eine Antwort auf die Mutmaßungen. Es spiele keine Rolle, argumentierte sie, ob sie Crowcross am Ende tatsächlich nutzten oder nicht. Entscheidend sei die Tatsache, dass die Flugzeuge und Missiles tatsächlich nach England kämen, wo immer sie auch stationiert würden (und das bestreite die Regierung keineswegs, im Gegenteil, sie brüste sich noch damit). Bei unserem Protest gehe es (wie bei allen ähnlichen Protesten) darum, die Menschen wachzurütteln und auf die Geschehnisse aufmerksam zu machen, bevor es zu spät sei.
Was sie sagte, machte alle Einwände zunichte, vor allem da der Prozess gegen die Crowcross Three immer näher rückte. In mancher Hinsicht war dieses Wochenende mit den Frauen aus Greenham das letzte »richtige« Wochenende im Cottage. So stellt es sich zumindest in meiner Erinnerung dar. Auf jeden Fall hatten wir neben den Frauen auch noch andere Besucher. So war zum Beispiel der Priester einer christlichen Initiative zur nuklearen Abrüstung, der gleichzeitig Anti-Apartheid-Aktivist war, mit einer ganzen Theatertruppe aus Soweto angereist; sie machten eine Tour durchs Land und fanden bei radikalen Gruppen wie uns Unterschlupf. Was von den Achtzigern heute noch im Fernsehen zu sehen ist, wird von Schickimicki-Leuten, Finanzjongleuren und Bankern dominiert, die auf dem frisch deregulierten Aktienmarkt Kasse machen. Das überrascht nicht, wird die Geschichte doch in aller Regel von den Gewinnern geschrieben, aber das sind nicht die Achtziger, wie Millionen andere sie erlebt haben. Eine Zeit des Kampfes, des Widerstands und der Hoffnung auf eine vernünftigere Zukunft. Alles das war an jenem Wochenende zu spüren, besonders am Samstagabend. Der ursprüngliche Geist des Cottage lebte wieder auf. Die Afrikaner brachten uns ANC-Lieder bei, und Oliver (ein wirklich talentierter Musiker, wenn auch ein bisschen vertrottelt) revanchierte sich mit Woody Guthrie, Dylan und Elvis Costello. Gegen Mitternacht (es war Vollmond) zogen wir tanzend, singend und lachend aufs Freiheitsfeld hinaus. Ein paar Heiden, die das Flugfeld mit einem neuen, reinigenden Zauberspruch belegen wollten, hatten uns und, ganz im Sinne einer gelebten Ökumene, auch den Priester eingeladen, ihnen zuzusehen. Jenseits des Zauns patrouillierte ein einzelner Sicherheitsposten mit einem maulkorbtragenden Schäferhund an der Leine. Mann und Hund wurden nicht nur vom Mond angestrahlt, sondern auch von den hellen Lampen entlang des Zauns.
»Komm und trink mit uns, Kumpel!«, rief Andy zu ihm hinüber und schwenkte seine Flasche Reiswein.
Wir wussten, die Wachleute hatten strikten Befehl, weder mit uns zu reden noch sonst wie mit uns in Kontakt zu treten, und trotzdem wiederholten noch ein paar andere die Einladung und winkten freundlich zu ihm hinüber. Einen Moment lang blieb der Wachmann stehen und schaute uns an, bevor er seine Patrouille fortsetzte. Er war jung, vielleicht Anfang zwanzig, nicht viel älter als ich damals. Er sagte kein Wort, aber Claire und ich, wir sahen den Ausdruck auf seinem Gesicht. Wehmütig. Voller Bedauern. Vielleicht sogar beschämt. Als wüsste er tief in seinem Innern, dass er die falsche Wahl getroffen hatte und in vielerlei Hinsicht auf der falschen Seite stand, nicht
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