Die Toten von Crowcross
einer gewesen war, war vorüber.
Nigel war gleich morgens im Pool des »Baur Au Lac« ein paar Bahnen geschwommen und hatte sich anschließend das Frühstück aufs Zimmer bringen lassen. So wie die Dinge lagen, stand unauffällige Zurückhaltung auf der Tagesordnung. Bis zu seiner ersten geschäftlichen Verabredung hatte er noch eine Stunde. Er rief Julie an, seine Assistentin, und bekam auf diskrete, indirekte Weise heraus, dass sie der Polizei nichts von Andy erzählt hatte. Als das getan war, griff er nach den Zeitungen . Zusätzlich zu seinen gewohnten englischen Zeitungen hatte er sich auch ein Boulevardblatt besorgt, um zu sehen, wie reißerisch die den Mord an Martin aufmachten. Wenn die Darstellung des Express typisch war – und warum sollte sie es nicht sein –, bot der am Montagabend begangene Mord vor allem einen Anlass, die gewohnte Sex-and-drugs-Story vom Myrtle Cottage noch einmal hervorzukramen, all die alten Fotos der schönen Claire und den gewohnten Unsinn über die »freie Liebe« in der antibürgerlichen Kommune. Sie hatten sogar eine Seite mit den alten Verschwörungstheorien zusammengestellt ( Hat M I5 Claire Oldhams Tod befohlen? Lesen Sie Seite 5 … ) Als Nächstes rief er Andy im Möwenpick an, um sich zu vergewissern, dass er rechtzeitig da sein würde. Ein paar seiner Besprechungen sollten etwas außerhalb der Stadt stattfinden und rechtfertigten so auf willkommene Weise Andys Anwesenheit, sollte sich von offizieller Seite jemand so detailliert für Nigels Tagesablauf interessieren. Außerdem wollte er Andys Stimme hören, jeden Vokal, den ganzen Tonfall. Er musste sichergehen, dass Andy völlig, hundertprozentig nüchtern war.
Befriedigt legte er auf, nahm sich einen Whisky aus der Minibar und beschloss, sich den Beginn des Tages mit einem guten Schluck etwas zu erleichtern. Nichts sprach dagegen . Schließlich war er nicht wie Andy: Er wusste, wann er aufhören musste.
Manchmal beschrieb eine abgedroschene Redewendung die Wahrheit am besten, das hatte er oft gedacht: Seine Welt war eingestürzt nach Claires Tod, in jeder Hinsicht. Die Crowcross Three hatten alle ein Jahr bekommen und nicht die drei bis sechs Monate, die ihnen ihre Anwälte so leichtfertig vorausgesagt hatten. Sie hatten für ihren Fall den denkbar schlechtesten Richter erwischt, einen widerlichen alten Faschisten – die böswillige, sarkastische Verkörperung von ruchlosem Despotentum ẻ Im Gefängnis dann war er in ein paar Rangeleien verwickelt worden, was ihm jede Aussicht auf einen Straferlass verbaut hatte. Er hatte um die Erlaubnis gebeten, an Claires Beerdigung teilzunehmen, aber ihre Angehörigen hatten klargestellt, dass sie ihn nicht dabeihaben wollten, und so war sein Antrag abgelehnt worden. Jener Tag im Juli (ihre Leiche hatte Wochen über Wochen in der Leichenhalle gelegen, bis sie endlich freigegeben worden war) war der schwärzeste seines Lebens gewesen. Hinter Gittern zu sitzen, während Claires Eltern ihre ermordete Tochter christlich fromm zu Grabe trugen, und zu wissen, dass sie als überzeugte Atheistin das ganze Brimborium gehasst hätte! Alle von der RCV und vom Myrtle Cottage waren von der Kirche ferngehalten worden, und trotzdem hatten Hunderte CND-Unterstützer den Weg zum Friedhof gesäumt und das Grab mit Blumen überhäuft. Das war der Auftakt zur zweiten Welle von Crowcross-Protesten gewesen . Das ganze weitere Jahr hindurch waren an den Wochenenden von überall her aus dem Land Tausende nach Crowcross gekommen, hatten Menschenketten um den Flugplatz gebildet und Plakate mit Claires berühmtem Foto dabeigehabt.
Mit Myrtle Cottage war es allerdings vorbei gewesen . In den Tagen und Wochen nach dem Mord hatten auch noch die letzten Vertreter des harten Kerns ihre Taschen gepackt. Claires Angehörige hätten das Cottage bestimmt irgendwann räumen lassen, aber die Leute gingen freiwillig und ersparten damit sich selbst und der Familie den Ärger. Und sie verloren einander vollständig aus den Augen. Fast war es, als hätte der Mord den Protest in eine heimliche Schuld verwandelt, eine schändliche Geschichte, mit der jeder für sich abschließen wollte. Andy und Hilary waren diejenigen, die ihn noch am längsten besuchten, aber eines Tages trennten sie sich, und danach blieb auch Andy weg. Als Nigel endlich wieder freikam, war Hilary die Einzige, mit der er noch Kontakt hatte.
Und die Welt, in die Nigel neu eintrat, hatte sich gewandelt. Der IRA-Angriff auf das »Grand Hotel« in
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