Die Toten von Crowcross
Brighton hatte die moralische Autorität der Regierung enorm gestärkt und mehr oder weniger unangreifbar gemacht. Der Bergarbeiterstreik war, nachdem sie seine Protagonisten mehr oder weniger ausgehungert hatten, mit einer bösen Niederlage zu Ende gegangen. Aus dem Generalstreik, auf den die RCV gehofft hatte, war nichts geworden. An seinem ersten Wochenende in Freiheit kaufte Nigel sich den Observer und las von der Schlacht auf dem Beanfield, einem üblen Polizeiangriff auf New-Age-Traveller in Stonehenge, der ihm wie eine Wiederholung dessen vorkam, was auf dem Flughafen in Crowcross abgelaufen war. Wohin er auch blickte, seine Träume waren zerstoben. Den Leuten waren kleine Eigenheime und British-Gas-Aktien wichtiger als alles andere. Zur erhofften Revolution, so viel war klar, würde es in näherer Zukunft nicht kommen.
Das Schlimmste aber war, wie sehr er Claire vermisste (und Martin hasste). Sicher, auch er hatte sich während seiner Zeit im Cottage über Treue kaum Gedanken gemacht – so was hatte er, wenigstens im Prinzip, als bürgerliches Gerede abgetan . Er hatte ein paarmal mit anderen Frauen geschlafen und Claire sicher mit anderen Männern. Aber die Sache mit Martin war, so unglaublich es auch erscheinen mochte, offenbar etwas anderes gewesen – als hätte sie ihm diesen dürren, halbgebildeten Straßenjungen tatsächlich vorgezogen . Er hatte ihr nicht geglaubt, als sie versicherte, das Ganze sei nur ein flüchtiges Techtelmechtel, nichts Ernstes . Aber sie hatte es gesagt (vielleicht, um die Sache für ihn erträglicher zu machen, während er im Gefängnis saß), und so hatte er es dem Bullen erzählt. Er wusste, dass das vor Gericht gegen Martin sprechen würde. Aber das war ihm damals nur recht. Nach allem, was er gelesen hatte, nach allem, was die Leute erzählten, hatte das Knochengerüst tatsächlich im Drogenrausch auch noch das letzte Fünkchen Leben aus Claires wunderbarem, schönem Körper herausgeschlagen.
Für ein paar Monate ging Nigel zurück nach Hause, in Mums und Dads ordentliche, graue Doppelhaushälfte, die der Gemeinde gehörte. Er musste Luft schöpfen, sich überlegen, was er anfangen wollte, aber da folgte schon der nächste Schlag. Eines Morgens wachte sein Dad auf und hielt sich, vor Schmerzen schreiend, den Leib. Der Blinddarm, sagte der Krankenwagenfahrer zu Nigels Mum, das würden sie im Krankenhaus schnell in den Griff bekommen. Aber den Teufel taten sie, es war natürlich Krebs, Bauchspeicheldrüsenkrebs im fortgeschrittenen Stadium, und Nigel sah seinen Vater im beschissenen, unterfinanzierten örtlichen Krankenhaus sterben. Erst ganz am Ende bekam der todkranke Mann ein (winziges) Einzelzimmer. Damals hatte es noch kein Internet gegeben, aber Nigel war ein paarmal in die Uni-Bibliothek von Birmingham gefahren und hatte sich durch die internationalen medizinischen Fachzeitschriften gewühlt, hatte Artikel über Studien, neue Medikamente und avanciertere Behandlungsmethoden gelesen. Nichts davon war in England verfügbar gewesen, schon gar nicht für Leute, die nicht das Geld hatten, dafür zu bezahlen.
Er wusste, er hatte seinen Dad enttäuscht, und ebenso wusste er, dass sein Dad diese Enttäuschung in sich hineingefressen und trotzdem weiter an ihn geglaubt hatte. Sein Dad und seine Mum lebten noch in dem alten Arbeiterklasseglauben, »eine gute Ausbildung« sei ein Garant dafür, dass es aufwärts ginge, in eine bessere Zukunft.
»Überlass du mir nur später deine alten Bentleys«, hatte sein Vater gern gescherzt, wenn er nach einem harten Arbeitstag nach Hause kam und seinen Sohn über die Schulbücher gebeugt fand.
Dann hatte Nigel ihn kurz angelächelt und sich wieder seinen Hausaufgaben zugewandt. Zweifellos hatte in diesem Scherz auch ein ernster Kern gesteckt. Nigel würde es gut machen und sein Sohn dann noch einmal besser als er; das war die einfache Philosophie seines Vaters gewesen. Nur dass Nigel es versaut hatte. Er hatte sich an der Uni den Revolutionsvirus eingefangen, und nun stand er da, ohne einen Penny und mit verkorkster Zukunft. Ein arbeitsloser Uniabsolvent, der seine Möglichkeiten »dem Volk« geopfert hatte: Das war er, als sein Dad starb – ohne dass das Volk sein Opfer gewollt oder auch nur geschätzt hätte.
Ganz hatte er Marx nie den Rücken gekehrt, und das würde er auch nie tun. Der große, alte Ex-Hegelianer hatte die Welt schon richtig gesehen, wenigstens theoretisch. Seine Analyse war tiefgründig und rein und würde
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