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Die Toten von Crowcross

Die Toten von Crowcross

Titel: Die Toten von Crowcross Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iain Mc Dowall
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Bestand haben, solange es den Kapitalismus gab. Marx’ einzige Schwäche war sein naiver, dem neunzehnten Jahrhundert entsprungener Optimismus gewesen, der Mensch, so wie er nun einmal konstruiert war, sei den praktischen Aufgaben, vor die er ihn stellte, gewachsen. Aber das war er keineswegs, nein, vielmehr machte er, sobald er sich an der Umsetzung der marxschen Ideen versuchte, alles nur noch schlimmer (und auf welch grausame Weise!).
    Nigel spülte seinen Mund mit Mundwasser aus und schenkte sich ein Glas Orangensaft ein. Alkohol war in Ordnung, wenn man einen Deal abgeschlossen hatte, nach einem Treffen. Schon vorher danach zu riechen, das ging nicht. Er trat hinaus auf den Balkon und zwang sich regelrecht, die Yachten draußen auf dem Wasser endlich zu bemerken, die warme Sonne auf der Haut und die frische Luft, die ihm um die Nase strich.
    Was war ihm geblieben? An der Universität hatte er Freundschaften geschlossen, die ihm noch immer nützten. Mit anderen jungen Idealisten, für die der Idealismus mit der Zeit in den Hintergrund gerückt war, und tatsächlich, am Ende hatte ihm einer von ihnen zu seinem ersten Job verholfen, bei einem kleinen Investmentbroker. Sein Bachelor in Wirtschaft und die ersten praktischen Erfahrungen, die er direkt im Anschluss gesammelt hatte, waren für den Lebenslauf günstig gewesen – alles andere hatte er zurechtgebogen oder schlicht erfunden. Entweder war er ein besonders guter Lügner, oder seine ersten Chefs pfiffen auf seinen Werdegang, sobald sie sahen, was er für sie fertigbrachte. Vom ersten Tag an hatte er ein goldenes Händchen bewiesen und weit mehr Profit produziert, als er kostete. Zehn Jahre, von den wilden Achtzigern bis in die Neunziger, hatte er gebraucht, um ganz an die Spitze zu gelangen Ể Finanzieller Erfolg in einem solchen Ausmaß weckte in den entsprechenden Gazetten natürlich einiges Interesse, aber da war von seinen früheren Überzeugungen schon kaum mehr etwas übrig gewesen, und seine radikale Jugend hatte allenfalls der Berichterstattung über ihn ein paar Farbtupfer verliehen.
    Vielleicht hatte er damals sogar daran gedacht, den Traum seines Dads einfach nach dessen Tod zu erfüllen: zu heiraten, eine Familie zu gründen, Wohlstand zu schaffen, den er einst weitergeben konnte. Aber je mehr sie zur Erinnerung wurde, desto unerreichbarer wurde Claire auch, eine übermächtige Rivalin für alle Frauen, denen Nigel je begegnete, und er hatte sich zu einem jener Männer entwickelt, die das andere Geschlecht ins Reich anzuhäufender Genüsse verbannten, genauso wie Gemälde, guten Wein und alte Autos. Währenddessen kümmerte er sich um seine Mum, kaufte ihr ein Haus in den Cotswolds, dann eines auf Mallorca, und als ihre Sehnsucht zu groß wurde, brachte er sie schließlich wieder in ihr altes Zuhause. Und er kümmerte sich um seine Brüder und Schwestern und deren Kinder. Mit Geld, Verbindungen und allem, was nötig war.
    Tony Blair kam an die Macht, und der Thatcherismus wiederholte sich als Farce. Und dann hatte Nigel Andy wiedergefunden, an einem kalten Novemberabend im U-Bahnhof Moorgate. Nigel kam von einem Meeting mit einer japanischen Bank, gleich um die Ecke, am Finsbury Circus. Das Gespräch hatte sich ewig hingezogen, und als er endlich wieder auf der Straße stand, war der Berufsverkehr in vollem Gang. Mit dem Taxi zurück ins Hotel zu fahren wäre Wahnsinn gewesen, selbst über die Busspuren, also beschloss er, ausnahmsweise die U-Bahn zu nehmen. Und als er sich am Bahnhofseingang einen Evening Standard kaufte, sah er eine heruntergekommene Gestalt gegen die menschliche Flutwelle ankämpfen, die auf die Treppen zustrebte. Einen Betrunkenen oder Junkie, einen stinkenden, dreckigen Penner, der in die entgegengesetzte Richtung wollte. Der Mann schien in höchster Not, das sah Nigel, als er, die Zeitung in seiner Aktenmappe, näher kam. Die Leute stießen und schubsten ihn aus dem Weg. Ein Stück störenden, menschlichen Müll. Ohne nachzudenken, eher einem Instinkt folgend, streckte Nigel den freien Arm aus und zog den Mann zur Seite. Einen Betrunkenen, dem Atem nach zu urteilen. Mit einem alten, dreckigen Mantel, verfilzten Haaren und ebensolchem Bart. Trotzdem erkannte Nigel etwas Vertrautes in den Augen, in dem Ausdruck.
    Der Portier und die Hotelbediensteten in der Halle sahen ihn komisch an, und er musste ihrem Entgegenkommen mit großzügigen Trinkgeldern auf die Sprünge helfen, aber dann halfen sie ihm und zeigten ihm den Weg

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