Die Toten von Crowcross
ausgesehen. Alter, natürlich, über vierzig, aber er hatte nach wie vor etwas Jungenhaftes an sich gehabt, etwas Beseeltes, Waches. Das hatte Nigel überrascht. Er hatte mit Bitterkeit gerechnet, bestenfalls mit Resignation, aber der neue Martin war anders gewesen. Kein einfacher Typ, intensiv, keine Frage. Aber zugleich hatte Nigel das Gefühl gehabt, jemandem gegenüberzustehen, den zu kennen sich lohnte; jemandem, von dem man etwas lernen konnte. Martin war an einem der finstersten Orte gewesen, die man sich nur vorstellen konnte, als Unschuldiger lebenslänglich hinter Gittern, aber er hatte überlebt, hatte es durchgestanden, war weder zerbrochen noch verrückt geworden. Das Schlimmste, was sich über ihn sagen ließ, war, dass er es nach seiner Entlassung fürchterlich hatte krachen lassen. Er hatte ihnen davon erzählt, von den Frauen, den Drogen, der Sauferei. Seine »Nachhol-Jugend« hatte er es genannt und irgendwann auch seine »tantrische Phase«: Das Geheiligte im Niederen suchen. Aus Martins Mund hatten diese Worte ganz und gar nicht lächerlich oder prätentiös geklungen .
Alles in allem hatten sie weit mehr über die alten Zeiten gesprochen als über seine Jahre im Gefängnis. Von Boland hatte er ihnen allerdings erzählt, auch von dem Aufstand dort. Darüber hatte er wirklich reden wollen, das Thema musste ihn beschäftigt haben. Ich weiß, wer es war. Ich kenne sie alle , hatte er gesagt und ihnen auch erzählt, was im Einzelnen sie gemacht hatten. Fürchterliche Dinge, die nie publik geworden waren. Zum Beispiel hatten sie einem der Sextäter ein Stück von der Zunge abgeschnitten. Himmel, Martin , hatte Nigel gesagt, du willst die doch jetzt wohl nicht anschwärzen?
Da hatte er ihnen bereits erzählt, dass er schreibe und dass das mittlerweile seine Hauptbeschäftigung sei. Dass er die ganze Geschichte zurechtrücken und seine Version erzählen wolle.
»Versteh doch, Nigel. Jemand hat mich hinter Gittern verrotten lassen für etwas, das er getan hat, und seine Schuld hat er verdrängt. Was macht das mit mir, wenn ich jetzt in gleicher Weise vor etwas die Augen verschließe?«
»Aber das ist doch nicht das Gleiche«, hatte Nigel argumentiert. »Schließlich sitzt dafür keiner unschuldig im Knast. Da ist keinem das Leben gestohlen worden.«
Zwei Touristen störten ihn auf. Ein Pärchen. Junge, lächelnde Amerikaner. Er nahm die Kamera, die ihm der Mann hinhielt und knipste die beiden, wie sie Händchen haltend unter einer Linde standen. Drei Fotos machte er, damit sie das beste nach Hause schicken konnten.
Martin hatte auch ein wenig von seiner Freundin erzählt. Maureen. Es hatte sich gut angehört. Wirklich gut. Da bestand offenbar eine echte Verbindung. Etwas, das ihm Halt gab und Kraft. Natürlich hatte es Martin überrascht, Andy zu sehen, das war offensichtlich gewesen . Zunächst hatte er ihn gar nicht erkannt, dann hatte sich gezeigt, dass er ehrlich bedauerte, was für Andy nach dem Cottage alles danebengegangen war. Einiges hatte er schon von Hilary gehört. Aber nicht viel, nicht die ganze Geschichte. Andy hatte sie ihm erzählt: von seinem Bruch mit Hilary, wie er sich von einem Gelegenheitsjob zum nächsten hatte treiben lassen und die ganze Zeit getrunken hatte, immer mehr und mehr, bis er buchstäblich am Boden war. »Nach Myrtle war nichts mehr, Kumpel, da gab s nicht mal mehr Reiswein«, hatte Andy gesagt. »Da war alles Gute Vergangenheit, genau wie die Hoffnung.«
Die Privatdetektivin hatte geklingelt, als Nigel und Andy gerade gehen wollten. Martin hatte sich bereits erkundigt, ob die Frau sie später befragen könne. Einzeln, jeden für sich, das hatte er für das Beste gehalten. Nigel hatte gesagt, das müsse er sich erst überlegen, und Andy hatte im Prinzip das Gleiche gesagt ẳ Nigel hatte hinzugefügt, er selbst sei ja zur Zeit des Mordes im Gefängnis gewesen, in U-Haft.
»Das ist egal, Nigel. Es kann doch trotzdem Einzelheiten geben, an die du dich erinnerst, die aber die ganzen Jahre übersehen worden sind. Irgendetwas, das hilft.
Karen findet genauso wie ich, dass die Polizeiverhöre von damals völlig wertlos sind. Sie meint, wir sollten noch mal mit allen reden, die im Cottage gewohnt haben. Irgendwer muss was gesehen haben oder was wissen. Das sagt einem doch der gesunde Menschenverstand. Die Bullen haben damals einfach nicht die richtigen Fragen gestellt. Es gab ja auch keinerlei Anreiz, dafür hat Hunter schon gesorgt. Und heute gibt’s ein
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