Die Toten von Crowcross
nach der Demo gehört hatte, bei einem Workshop zum gewaltlosen Widerstand.
»Viele solche Lager werden in alten Kasernen und so eingerichtet werden«, erklärte sie uns, »aber offenbar bauen sie auch ein paar ganz neue, nur für diesen Zweck.«
»Glaubst du wirklich, dass sie die Leute einsperren wollen? Wie die Nazis?«, fragte ich, als sie einmal kurz innehielt.
Woraufhin die beiden mich ansahen wie einen naiven, gutgläubigen Narren, der ich schließlich auch war.
»Glaub mir, Kumpel«, sagte Andy. »Märsche und Demos sind das eine, aber wenn es erst so aussieht, als könnte unsere Seite gewinnen (wenn wir es denn so weit schaffen), dann werden die rigoros. Ich meine, wirklich rigoros. Dann sperren sie alle ein, von denen sie denken, sie gehören zu den Drahtziehern oder stehen auch nur ernsthaft hinter der Sache. Ganz ohne Prozess wird das gehen, genau wie sie es in Belfast gemacht haben.«
Hilary nickte begeistert.
»Thatcher und ihre Geldgeber in Washington können es sich nicht erlauben, die Kontrolle zu verlieren, Martin. Wenn sie erst die ganze Bevölkerung gegen sich haben, werden sie genauso reagieren, wie Andy es sagt. Sie werden alles tun, um an der Macht zu bleiben, selbst wenn dazu ein Militärputsch nötig ist.«
Ich starrte die beiden an und trank von meinem Bier, einem viel zu kalten Guinness (beim ersten Schluck schon hatte ich bedauert, mir eins bestellt zu haben). Ich war nicht unbedingt ein Fan der Regierung – soweit ich bis dahin über Politik nachgedacht hatte (was nicht oft vorgekommen war) –, aber ein Putsch? Was das konkret bedeutete, vermochte ich mir nicht auszumalen . Gut klang es jedenfalls nicht.
Andy erklärte mir die Sache genauer, redete von Allende, Pinochet und Chile und wollte gar nicht wieder aufhören ế Hilary erzählte von der speziellen Polizeiwache, die »die« gerade nicht weit von Paddington Station bauten und die, wie sie sagte, extra für politische Gefangene gedacht sei. Mit hundertpro Schall absorbierenden Zellen, in denen man die eigene Stimme und die eigenen Schritte nicht höre und verrückt werde, wenn man nicht mit den Verhörern kooperiere.
»Was hat das alles dann noch für einen Sinn?«, fragte ich. »Ich meine, das sieht doch ganz so aus, als würde man gegen die sowieso nicht ankommen.«
Andy beugte sich über den Tisch und senkte verschwörerisch die Stimme.
»Das Volk wird am Ende gewinnen, Martin. Darum geht es. Bei den Ersten, der Vorhut, wird es sicher Verluste geben, Gefängnis, wahrscheinlich mehr als ein paar Tote. Aber wenn wir gewinnen wollen, müssen wir Opfer bringen ế «
»Das klingt nach Krieg«, sagte ich.
Daraufhin beugte sich auch Hilary vor.
»Es ist ein Krieg«, sagte sie. »Die versuchen, die Welt zu einem nuklearen Gefangenenlager zu machen und uns zu versklaven. Wenn das Volk sie nicht aufhalten kann, werden sie uns alle ins Paradies bomben.«
Ich erinnere Sie noch einmal daran, lieber Leser, dass ich neunzehn war. Mein Leben war bis dahin keine große Sache gewesen . Zu Hause hatte es nicht viel gegeben, ich hatte mich mies gefühlt, war in der Schule unglücklich gewesen und, seit ich von zu Hause weggegangen war, einsam und ziellos herumgeirrt. Bis zu jenem Nachmittag in der »Market Tavern« war ich eine ziemlich verlorene Seele gewesen, und jetzt sah ich mit einem Mal ganz neue Möglichkeiten für mich. Plötzlich hatte ich Freunde, junge, intelligente Freunde, Frauen und Männer. Hatte ein Ziel, wenn ich es wollte, hatte die Chance, Teil von etwas Größerem zu werden. Manch einen hätten Hilarys paranoide Verschwörungstheorien abgeschreckt. Auf mich hatten sie genau die gegenteilige Wirkung. Myrtle Cottage war, so wie Andy und Hilary es darstellten, ein Glied in einer Protestkette, die rund um die Welt reichte und immer weiter wuchs. Dabei ging es nicht nur um den drohenden Nuklearkrieg, wenn das auch die Hauptsorge war, die alle zusammenbrachte. Nein, es kam noch eine ganze Menge mehr dazu. Myrtle Cottage hatte eine Vision gegen alles Übel der Welt zu bieten. Frieden, Sozialismus, Revolution, das waren die Schlagworte, die sich damit verbanden, und ich war eingeladen mitzumachen, mich einzusetzen und mit den anderen zusammenzuarbeiten.
Andy, tatsächlich einer von Nigels Musterschülern, war in seinem Element.
»Die kommenden zwölf Monate sind entscheidend, Kumpel. Die ersten Raketen sollen nächsten Monat nach Greenham gebracht werden, und im nächsten Jahr fällt wahrscheinlich die Entscheidung in
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