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Die Toten Von Jericho

Die Toten Von Jericho

Titel: Die Toten Von Jericho Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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Tat keinen Grund. Er faltete den Bogen sorgsam wieder zusammen, steckte ihn in den Umschlag zurück und legte ihn mit dem zweiten Kuvert in seine Brieftasche.
    Fünf Minuten später brachte er Celia das Frühstück hoch. Er wartete geduldig, bis sie sich verschlafen aufgesetzt und eine Strickjacke um die Schultern gelegt hatte, dann stellte er ihr das Tablett auf den Schoß und gab ihr einen Kuß auf die Stirn. Er müsse heute morgen nach Oxford, ob sie einverstanden sei, daß er den Mini nehme. Um eins zum Mittagessen sei er ganz sicher wieder zu Hause. Gab es irgend etwas, das er ihr mitbringen konnte? Übrigens würde er heute abend vermutlich noch einmal nach Oxford fahren müssen.
    Celia hörte, wie er das Haus verließ. Sie saß vornübergebeugt, das Gesicht in die Hände vergraben, und dachte voll ratloser Verzweiflung über ihn nach. Wie konnte jemand so falsch sein und gleichzeitig so liebevoll bemüht erscheinen? Es war reiner Zufall gewesen, daß sie ausgerechnet letzten Samstag nach langer Zeit wieder einmal die Oxford Mail gekauft und so auf den Bericht über Anne Scotts Tod gestoßen war. Bei ihrer Rückkehr hatte sie die Zeitung so liegenlassen, daß Charles ihn eigentlich nicht hatte übersehen können. Er hatte ihn wohl auch gelesen. Trug er die Schuld daran, daß sie sich umgebracht hatte? So etwas war immer schwer zu entscheiden, und sie merkte, daß es ihr im Grunde gleichgültig war. Das einzige, was sie interessierte, war, den jetzigen unhaltbaren Zustand zu beenden; die Situation wurde für sie von Tag zu Tag unerträglicher. Nein, sie durfte es nicht länger aufschieben. Er hatte gesagt, daß er bis zum Mittagessen zurück sein würde, danach würde sie sich ein Herz fassen und mit ihm reden, endlich alles, was sie wußte, herauslassen, ihm die Wahrheit entgegenschleudern. Sie mußte es tun, um ihrer selbst willen, sie würde sonst noch daran ersticken. Conrad hatte ihr abgeraten, aber er würde sie trotzdem verstehen. Er hatte sie immer verstanden … Sie kaute ein Stückchen des inzwischen hart gewordenen Toasts und trank einen Schluck lauwarmen Tee. Charles war also heute morgen in Oxford. Dabei betonte er doch immer, wie unumgänglich notwendig es sei, gerade am Samstagmorgen in der Firma zu erscheinen. Was gab es in Oxford Wichtiges, das ihn von dieser geheiligten Gewohnheit abbrachte? Anne Scott war ja nun tot; sie konnte also kaum der Grund sein.
     
    Auf der Intensivstation des John Radcliffe Zwei warf Dr. Philips einen besorgten Blick auf den Jungen, der dort völlig regungslos unter der weißen Decke lag, und betrachtete dann stirnrunzelnd die letzte Eintragung auf dem Krankenblatt: Fieber und unregelmäßiger Puls.
    »So ein Dummkopf«, bemerkte er seufzend zu der Schwester, die neben ihm stand.
    »Werden wir ihm helfen können?« fragte sie.
    Philips zuckte die Achseln. »Da bin ich skeptisch. Wenn jemand erst mal angefangen hat mit dem Zeug …«
    »Wissen wir inzwischen eigentlich, was es war?«
    »Nicht sicher, aber es deutet alles auf Kokain hin – das Fieber, die erweiterten Pupillen, die Schweißausbrüche, die Gänsehaut, der erhöhte Blutdruck … Er scheint es sich gespritzt zu haben, das hat die Wirkung noch verstärkt.«
    Sie nickte. »Glauben Sie, daß er es überstehen wird?«
    »Wenn – dann hat er das einzig und allein Ihrer großartigen Pflege zu verdanken, Schwester.«
    Schwester Warrener freute sich über das Lob; außerdem gab ihr die Auskunft wieder etwas Mut. Michael Murdoch. Sie hatte das Gefühl, sie würde ihn mögen. Er war neunzehn, genau wie sie, und hatte gerade erst vor kurzem einen Studienplatz am Lonsdale College bekommen. Sie würde alles tun, um ihn durchzubringen. Er war einfach noch zu jung, um zu sterben; er hatte doch noch alles vor sich. Sie dachte an seine Mutter. Auf den ersten Blick wirkte sie so energisch und vernünftig und machte den Eindruck, als sei sie der schlimmen Situation gewachsen, aber die junge Schwester hatte während ihrer Ausbildung schon genug Menschenkenntnis erworben, um das Unglück und die tiefe Verzweiflung zu ahnen, die sich hinter einer Fassade aus Kompetenz und Beherrschung zu verbergen suchte.
     

Kapitel Zwölf
     
    Die Ereignisse, deren Zeuge Sophokles wurde,
    waren in ihrer national- und weltgeschichtlichen
    Dimension zweifellos begrenzt,
    in bezug auf die Intensität der Handlungen
    und Emotionen jedoch ohne Beispiel.
    Aus der Einleitung zu »Sophokles, Die Thebanischen Dramen« Penguin Klassiker
     
    Morse

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