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Die Toten Von Jericho

Die Toten Von Jericho

Titel: Die Toten Von Jericho Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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blieb seinem einmal gefaßten Entschluß treu; gegen neun war er wieder in Jericho, parkte seinen Lancia im absoluten Halteverbot direkt vor dem Printer’s Devil und ging hinein, um sich mit zwei doppelten Whiskies für sein Vorhaben Mut anzutrinken. Eine Viertelstunde später stand er in Canal Reach. Mit Erleichterung sah er, daß Mr Jackson in Nr. 10 offenbar nicht zu Hause war. Das Tor der kleinen Werft war nur angelehnt; Morse blickte sich verstohlen um und schlüpfte dann schnell hindurch. Er wandte sich nach links und bewegte sich sehr langsam und vorsichtig, da überall irgend etwas herumzuliegen schien – Benzinfässer, Spieren und nicht genau zu identifizierende Teile eines abgewrackten Schleppkahns. Wie er erwartet hatte, war das Gelände um diese Zeit völlig verlassen. Die Tür der kleinen Holzhütte, in der das Büro der Werft untergebracht sein mochte, war für die Nacht mit einem Vorhängeschloß gesichert. Rings umher war alles still, nur ab und zu drang vom Kanal her das leise Quaken einer Ente herüber. Der Mond lag hinter einer dicken Wolkendecke verborgen, und es herrschte eine fast undurchdringliche Dunkelheit.
    Er zog sich eines der Benzinfässer heran, kletterte hinauf und spähte über die Mauer zum Haus von Anne Scott. In den Nachbarhäusern war nach hinten hinaus alles dunkel. Er stemmte die Arme auf die Mauerkrone, zog sich hoch und blieb einen Moment lang geduckt oben sitzen, bevor er sich auf der anderen Seite hinuntergleiten ließ. Beim Aufkommen verspürte er einen scharfen, stechenden Schmerz im rechten Fuß – er war in einen Blumentopf getreten und hatte sich an den Scherben geschnitten. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er, im Schatten der Mauer stehend, abwartete, ob jemand etwas gehört hatte. Aber nichts rührte sich.
    So leise wie möglich ging er zur Hintertür. Er schloß auf und stand in der Küche. Es dauerte einen Augenblick, bis seine Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten und er um sich sehen konnte. Die Tür gleich rechts führte vermutlich zu einem kleinen Badezimmer, hinter der Tür am anderen Ende der Küche lag das Wohnzimmer. Die Tür klemmte – Walters hatte ihn vor zehn Tagen bei seinem ersten Besuch darauf hingewiesen –, und er brauchte etwas Kraft, um sie aufzuziehen. Das scharrende Geräusch, mit dem die untere Kante über den Boden schleifte, schien das ganze Haus zu erfüllen. Das Wohnzimmer war ihm noch vertraut, und er fand den Weg zur Treppe ohne Schwierigkeiten. Oben nahm er seine Taschenlampe heraus und knipste sie an, hielt aber die Hand darüber, damit der Lichtschein nicht nach draußen dringe. Er hatte vor, sich den hinteren der beiden Räume anzusehen; das Schlafzimmer, das nach vorn hinaus lag, zu durchsuchen schien ihm zu riskant. Die nächste halbe Stunde brachte er damit zu, in ihrem Schreibtisch herumzustöbern. Er kam sich vor wie einer jener häßlichen großen Geier, die sich gierig auf alle Kadaverreste stürzen, die ihnen Schakale und Hyänen übriglassen. Schließlich war er fertig und schob die Schubladen wieder zu. Unter den Dingen im Schreibtisch hatte sich ein Taschenkalender vom vergangenen Jahr befunden, den er einsteckte. Er wandte sich zum Gehen und leuchtete noch ein letztes Mal durch den Raum. Der Strahl seiner Taschenlampe traf auf ein Bücherregal. Er lächelte wehmütig, als er die schwarzen Rücken der Penguin Klassiker-Ausgaben erkannte – die hatte sie also auch gemocht. Die Bände standen nach Autoren geordnet; von A – wie Äschylos bis X – wie Xenophon. Plötzlich stutzte er. Klaffte da nicht eine Lücke? Ja, zwischen Senecas Tragöd i en und Suetons Leben der Cäsaren war ein schmaler Zwischenraum. Was konnte da gestanden haben? Vielleicht Sophokles. Ja, ganz sicher sogar. Er zuckte die Achseln. Und wenn schon. Er verließ das Zimmer und stieg vorsichtig die knarrende Treppe hinunter.
    Unten blieb er einige Zeit bewegungslos stehen, bis er auf einmal merkte, daß ihn fror. Wie hatte sie überhaupt geheizt? Eine Zentralheizung gab es nicht, auch keine elektrische Nachtspeicherheizung. Oben hatte sie ein kleines elektrisches Heizöfchen gehabt. Und hier unten? Gab es einen Kamin? Er trat ein Stück weit ins Zimmer hinein und blickte sich um. Ja, dort links, eingerahmt von hellen Kacheln. Er hatte ihn bei seinem ersten Besuch übersehen, damals hatte das Mahagonitischchen mit dem Fernsehgerät davorgestanden. Ohne sagen zu können, warum, beugte er sich hinunter und tastete den Rost ab. Asche. Er knipste

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