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Die Toten Von Jericho

Die Toten Von Jericho

Titel: Die Toten Von Jericho Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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sich ja aufraffen. Aber es war eigentlich eher unwahrscheinlich.
    An eben diesem Dienstagmorgen saß Charles Richards in seinem Büro und war gerade dabei, seiner Sekretärin einen Brief zu diktieren, als gegen halb elf das Telefon klingelte. Er nahm selbst ab.
    »Richards.«
    Er hörte eine heisere Stimme, die mehr flüsterte, als daß sie sprach. »Sie kenn mich nich, aber ich kenn Sie. Es wär Ihn bestimmt nich recht, wenn ich zu Ihrer Missis gehn täte und …«
    Erst jetzt begriff er. Die Hand über die Sprechmuschel gelegt, wies er seine Sekretärin an, das Zimmer zu verlassen. Er wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, dann legte er los.
    »Ich weiß nicht, wer Sie sind, und ich habe auch kein Interesse daran, einen Lumpen wie Sie kennenzulernen. Ich bin bereit, auf Ihren Vorschlag einzugehen – das heißt, ich werde zahlen –, aber nur ein Viertel der Summe, die Sie verlangt haben. Mehr ist nicht drin. Kapiert?«
    Der Mann (es war doch ein Mann?) am anderen Ende schwieg.
    »Und den Übergabeort bestimme ich. Hören Sie also jetzt gut zu: Morgen abend genau um halb acht werde ich langsam die Woodstock Road entlangfahren. Ich komme aus Richtung Norden, vom Kreisverkehr. Ich fahre einen hellblauen Rolls, der dürfte nicht zu übersehen sein. Ich werde in einer Querstraße anhalten. Die Straße heißt Field House Drive. Merken Sie sich den Namen. Field House Drive. Etwa fünfzig Meter die Woodstock Road hoch gibt es eine Telefonzelle. Gleich dahinter ist eine niedrige Mauer. Sie ist dicht mit Efeu bewachsen. Ich werde das Geld in einer braunen Plastiktasche direkt an die Mauer stellen, so daß sie durch den Efeu verdeckt ist. Ich werde dann zu meinem Wagen zurückgehen und wegfahren. Sie können sich das Geld holen – es gehört Ihnen. Aber denken Sie nicht, daß Sie nochmal kommen können. Ich zahle nur dies eine Mal, und das ist mein letztes Wort. Sollten Sie mich weiter behelligen, bringe ich Sie um.« Richards hielt inne. Der Anrufer schwieg noch immer. Nur sein schwerer, stoßweiser Atem war zu hören.
    »Haben Sie alles mitbekommen?«
    Der Mann räusperte sich. »Is gut von Ihn, Mr Richards. Und is bestimmt das beste – auch wegen der Missis.« Damit hängte er ein.
    Charles Richards legte das Blatt, von dem er seine Anweisungen abgelesen hatte, beiseite und rief seine Sekretärin herein.
    »So, dann wollen wir mal wieder.« Seine Stimme klang völlig ruhig, doch er spürte, wie sein Herz klopfte, während er weiterdiktierte.
     
    Mr Parkes war, wie Mrs Briggs Constable Walters gegenüber ganz richtig festgestellt hatte, schon recht klapprig und hatte wohl nicht mehr lange zu leben. In den letzten Jahren hatte er zu trinken angefangen, doch das machte, fand er, nun auch nichts mehr aus. Denn wenn er in gelegentlichen Momenten überaus großer Klarheit auf seine siebzig und mehr Jahre zurückblickte, so stellte er jedesmal bitter fest, daß er sein Leben vertan hatte. Er war Lehrer gewesen – zuletzt zwanzig Jahre Rektor einer Grundschule in Sussex –, doch sein pädagogisches Talent war nicht sehr ausgeprägt gewesen. Seine wahre Begabung hatte ganz woanders gelegen. Schon als Junge hatte er sich mit Leidenschaft auf alle möglichen kniffligen Fragen gestürzt, stundenlang über Schach- und Bridgeproblemen gebrütet, komplizierte Kreuzworträtsel ersonnen und sich an neuen mathematischen Beweisen versucht. Zu einem gescheiterten Leben gehört immer auch ein Traum. Mr Parkes’ Traum war es gewesen, die Geheimnisse einer der toten Sprachen zu enträtseln. Des Etruskischen etwa oder der ›Linear B‹-Schrift, oder war es ›C‹? Er wußte es nicht mehr. Es lag alles schon so lange zurück. Wenn damals vor dreißig Jahren die Universität sich bereit erklärt hätte, seine Forschungen zu finanzieren … An Anne Scott dachte er schon seit Tagen nicht mehr.
     
    Für Mrs Raven und ihren Mann gab es, während sie bei einem späten Frühstück saßen, natürlich nur ein Thema: die Zusage, daß ihren langen Bemühungen um die Adoption eines Babys jetzt endlich Erfolg beschieden sein würde. Sie waren beide zunächst überrascht, dann befremdet, schließlich empört gewesen, wie schwer man es ihnen machte, ihren menschenfreundlichen Entschluß in die Tat umzusetzen. Die Antragsformulare einschließlich aller Zusatzdokumente, Einkommensteuererklärung, Erklärung über die Kirchenzugehörigkeit sowie ein Abriß der Familiengeschichte mußten in dreifacher Ausfertigung vorgelegt werden. Sodann

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