Die Toten Von Jericho
hatten sie ein Papier zu unterschreiben, auf dem sie feierlich gelobten, ›unter keinen Umständen den Namen oder den Wohnort der leiblichen Eltern herauszufinden, noch auch irgendwelche anderen Informationen über sie einzuholen …‹ Besonders Mrs Raven hatte in den letzten Monaten sehr gelitten. Es lag, wie eindeutig festgestellt worden war, an ihr, daß Mr Ravens unermüdlichen Versuchen, Nachwuchs zu zeugen, kein Erfolg beschieden gewesen war. Nur wegen ihrer Unfähigkeit, ein Kind zu bekommen, hatten sie sich also diesem nervenaufreibenden und demütigenden Auswahlprozeß unterwerfen müssen. Aber jetzt war zum Glück das Schlimmste überstanden. Sie freute sich schon. In den ersten Monaten würde sie mehr zu Hause bleiben müssen. Keine Tennisnachmittage mehr, und auch den Bridgeabend würde sie eine Zeitlang absagen.
Auch Mrs Raven dachte nicht mehr an Anne Scott.
Catharine Edgeley mußte ein Referat schreiben über die Funktion der Ironie in den Romanen von Jane Austen. Die Aufgabe nahm sie voll und ganz in Anspruch, und so dachte auch sie nicht mehr an Anne Scott, hätte wohl auch, wenn sie weniger beschäftigt gewesen wäre, nicht mehr an sie gedacht – sie hatte sie ja schließlich nur zweimal getroffen. Es war allerdings merkwürdig, daß Morse, dem sie sogar nur einmal begegnet war, ihr noch eine ganze Weile im Kopf herumspukte. Nicht übel der Mann – nur leider zwanzig Jahre zu alt.
Mrs Gwendola Briggs widmete sich am Dienstag nachmittag bei einer Tasse Tee der Lektüre des monatlich erscheinenden Bridgejournals. In den USA hatte man sich ein phantastisches, neues Bietsystem ausgedacht. Das würde sie heute abend gleich ausprobieren. An Anne Scott dachte sie nur noch beiläufig, im Zusammenhang mit ihrer Nachfolgerin, die heute zum erstenmal dabeisein würde. Mrs Briggs war einigermaßen stolz darauf, daß es ihr so schnell gelungen war, Ersatz zu besorgen. Die Mitglieder würden es ihr danken. Anders als dieser ungehobelte und lächerlich sentimentale Inspector waren sie ganz ihrer Meinung: das Leben mußte weitergehen.
Bei Mrs Murdoch war der Gedanke an Anne Scotts Tod sehr schnell in den Hintergrund getreten. Die Sache mit Michael hatte alles andere verdrängt. Und was ihn anging, so waren noch längst nicht alle Schrecken überstanden. Um Viertel vor sieben klingelte das Telefon, und ein junger, in diesen Dingen noch unerfahrener Medizinalassistent versuchte, ihr die furchtbare Nachricht möglichst schonend beizubringen. Aber was heißt schonend, wenn die Nachricht lautet: »Ihr Sohn hat versucht, sich die Augen auszustechen.« Er hörte ihren entsetzten Aufschrei, ihr klagendes »Nein, o nein!« und fragte sich hilflos, was er ihr sagen könne, um sie zu trösten. Doch ihm fiel nichts ein.
Charles Richards war seit Tagen zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, als daß er um Anne Scott hätte trauern können. Es gab so viel, was er bedenken mußte. Gegen neun rief er den ehrenamtlichen Schriftführer der Oxforder Literarischen Gesellschaft unter seiner Privatnummer zu Hause an, um ihm mitzuteilen, daß er leider an dem vor seinem Vortrag stattfindenden Abendessen – dessen Ehrengast er hatte sein sollen – nicht teilnehmen könne. Es tue ihm sehr leid, aber er habe unaufschiebbare geschäftliche Verpflichtungen. Er werde zusehen, daß er gegen Viertel vor acht dasei. Ob das reiche? Der Schriftführer beeilte sich, ihm zu versichern, das sei völlig in Ordnung. Was hätte er sonst auch sagen sollen? Doch kaum hatte Richards den Hörer aufgelegt, machte er seinem Herzen Luft: »So eine Ungehörigkeit! Würde mich nicht wundern, wenn er am Freitag gar nicht auftaucht.«
Morse verbrachte den Abend in seiner Stammkneipe. Er hatte sich an einen der hinteren Tische verzogen, um in Ruhe überlegen zu können. Dabei dachte er durchaus auch an Anne Scott. Aber das hatte nicht viel mit ihrer Person, dafür aber um so mehr mit den Umständen ihres Todes zu tun, die immer noch Fragen offenließen.
Nur im Leben von Anne Scotts Mutter bedeutete der 3. Oktober einen unwiderruflichen Einschnitt. Sie wußte, daß sie – mochte auch der erste heftige Schmerz irgendwann abklingen – den Tod ihrer Tochter niemals verwinden würde. Bis an ihr Lebensende würde die Frage nach dem Warum sie begleiten. Und die Selbstvorwürfe. Wenn sie doch bloß etwas geahnt hätte … Nun war es zu spät.
Kapitel Sechzehn
Die Burschen für die Mädchen
und die Burschen für den Schnaps
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