Die Toten Von Jericho
lang über dem Kopf und ließ ihn fallen. Der Anblick ihrer nackten Brüste entlockte den Umstehenden rauhe Begeisterungsschreie, in die sich einzelne Rufe mit der Aufforderung mischten, sie solle ihren Slip ausziehen. Sie reagierte nicht darauf, sondern paradierte, die Hände unter den Brüsten, wie um sie den begehrlichen Blicken besser darzubieten, am Rande des Podiums, auf dem Gesicht ein Lächeln, das über die Köpfe der Männer hinweg ins Leere ging. Die Musik hörte abrupt auf, und im gleichen Augenblick erlosch ihr Lächeln. Sie legte sich den Umhang über die Schultern und verschwand durch eine Seitentür.
Der Halbkreis um das Podium löste sich auf, die Männer gingen zurück zur Theke, einige verließen den Saal. In fünf Minuten war der nächste Auftritt. Edward setzte sich wieder auf das Podium. Aus den Augenwinkeln registrierte er, daß neben ihm ein Mann Platz genommen hatte.
»Noch ein Bier?« fragte Morse.
Edward sah ihn an und senkte dann sofort schuldbewußt den Blick zu Boden, als sei er gerade bei einem Ladendiebstahl erwischt worden, nahm das Angebot jedoch an. »Ja, bitte.«
Morse hatte damit gerechnet, daß er ablehnen würde, und überlegte, während er an der Theke stand und auf die Biere wartete, ob der Junge sich in der Zwischenzeit davonmachen würde. Aber das glaubte er eigentlich nicht. Er schaffte es, kurz bevor erneut Gedränge um das Podium einsetzte, wieder zurückzusein. Gemeinsam beobachteten sie den zweiten Entkleidungsakt der ›Sinnlichen Susi‹. Nachdem sie abgetreten und es um sie herum wieder ruhiger geworden war, wandte der Junge sich ihm zu und fragte halb neugierig, halb verlegen:
»Kommen Sie oft hierher?«
Morse nickte. »Ja, aber nicht jeden Mittag. Und du?«
»Ich bin heute das dritte Mal hier.«
»Hättest du nicht eigentlich Schule?«
»Ich habe heute nachmittag frei. Und Sie?«
Morse begann die Unterhaltung Spaß zu machen. »Ich? Ach, ich mache heute einfach das, was ich am liebsten jeden Tag machen würde: Mädchen ansehen, ein Bier trinken – na, du weißt schon. Wenn man wie wir beide über achtzehn ist, darf man sich so etwas zum Glück ab und zu leisten. Ich nehme an, du bist schon über achtzehn, oder? Sonst dürftest du nämlich gar nicht hier sein.«
Der Junge überging die Frage. »Was wollen Sie von mir?«
»Dich fragen, warum du mich angelogen hast.«
»Ich Sie angelogen?!«
»Ja. Du hast mir erzählt, Ms Scott habe dir eine Woche vor ihrem Tod gesagt, daß sie am folgenden Mittwoch nicht könne. Ich habe inzwischen erfahren, daß das nicht stimmt.«
Der Junge nickte resigniert: »Können wir uns wenigstens woanders hinsetzen, wo es ruhiger ist?«
Anfangs blieb er in dem, was er sagte, vage, versuchte ein-, zweimal durch patzige Bemerkungen sich vor einer Antwort zu drücken. Doch schließlich mußte er einsehen, daß sich Morse nicht so würde abspeisen lassen, und begann zu reden. Er erzählte von den Andeutungen, die sein Bruder Michael über seine Beziehung zu Anne gemacht hatte, davon, wie er selbst sie am Mittwoch vor ihrem Tod nur mit einem Rock bekleidet gesehen und wie ihn das aufgeregt habe, schließlich über ihren Brief. Und während er erzählte, begann er allmählich Vertrauen zu Morse zu fassen, entstand fast ein Gefühl der Zuneigung für ihn. Denn Morse tat weder überrascht noch empört, er reagierte weder spöttisch noch herablassend, sondern schien seine Gefühle vollkommen zu verstehen und sie zu akzeptieren. So jemanden wie ihn hätte er sich als Vater gewünscht. Edward hatte seinen Vater nie kennengelernt.
Morse konnte die Gefühle des Jungen gut nachempfinden, und seine Offenheit rührte ihn. Er besaß einen gewissen unbeholfenen Charme – Frauen würden ihn mögen. Auch Anne schien ihn gemocht zu haben … Nachdem der Junge gegangen war, überlegte Morse, ob er bleiben und sich die mittlerweile fünfte Stripteasenummer der ›Sinnlichen Susi‹ ansehen sollte. Aber so besonders aufregend hatte er es die ersten vier Male nicht gefunden. Waren das Anzeichen dafür, daß er alt wurde? Das nun doch sicherlich nicht! Nein, es lag vermutlich daran, daß der nackte weibliche Körper heute kaum noch von einem Geheimnis umgeben war. Wo man hinsah, auf Kalendern, Plakaten, in Zeitungsanzeigen, Filmen und im Fernsehen – überall sah man nackte Brüste, Schenkel, Pos. Früher, in seiner Jugend, war das noch völlig anders gewesen. Da war der Gipfel voyeuristischen Genusses erreicht, wenn man beim verstohlenen
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