Die Toten Von Jericho
treffen, die er für richtig halte. Sie verabschiedeten sich.
Ein paar Minuten später verließ Charles Richards sein Hotel und ging die sonnendurchflutete Calle de Alcatá hinunter, betrat das Café Léon und bestellte sich einen Cuba Libre.
Die ganze Fahrt nach Cambridge kehrten Celias Gedanken immer wieder zu den Ereignissen der letzten drei Wochen zurück. Sie war sich bewußt, daß sie nicht mit der nötigen Aufmerksamkeit fuhr, und versuchte immer wieder, sich ausschließlich auf den Verkehr zu konzentrieren, aber es wollte ihr nicht gelingen. In Bedford übersah sie einen Autofahrer, der sie in einer Einbahnstraße in der Innenstadt – durchaus zulässig – links hatte überholen wollen und hätte ihn beinahe gerammt, was er mit wütendem Gehupe quittierte. Später fuhr sie ein kurzes Stück auf der A 1 und verpaßte um ein Haar die Ausfahrt nach St. Neots. Das laute Quietschen der Reifen, als sie bremste, ging ihr so durch und durch, daß sie erst an den Straßenrand fahren und sich ein paar Minuten erholen mußte, bevor sie sich traute, die Fahrt fortzusetzen. Was war bloß in diesen drei Wochen aus ihr geworden, dachte sie verzweifelt.
Sie hatte die beiden Brüder kennengelernt, kurz nachdem sie in Croydon ihren Verlag gegründet hatten. Von Anfang an hatte sie nur für Charles Augen gehabt. Charles – mit seinem Charme, seiner Lebensfreude, seiner ausgeprägten Männlichkeit. Ziemlich schnell, noch vor ihrer Ehe, hatte sie jedoch auch die Schattenseiten seines Charakters gesehen: das schnelle Gekränktsein, seine Empfänglichkeit für Schmeicheleien, die kalte Rücksichtslosigkeit, was geschäftliche Dinge anging. Und schon damals hatte er jeder hübschen Frau hinterhersehen müssen. Die unverhohlene Begehrlichkeit, die in seinen Augen zu lesen war, hatte sie verstört, so daß sie den Blick jedesmal hatte abwenden müssen. Trotzdem waren sie in den ersten Jahren ihrer Ehe noch relativ glücklich gewesen. Sie hatten einen großen Freundeskreis gehabt und ein geselliges Leben geführt. In dieser Zeit war es ein paarmal vorgekommen, daß sie dem Werben eines Bekannten nachgegeben und mit ihm geschlafen hatte. Aber das waren nie mehr als kurze Episoden gewesen; sie hätte nie zugelassen, daß daraus eine Affäre wurde. Charles dagegen hatte zu allen Zeiten andere Frauen neben ihr gehabt – flüchtige Abenteuer manchmal, aber auch dauerhaftere Beziehungen. Sie wußte es von ihm selbst; er hatte es ihr einmal gestanden. Und dann im Vergleich dazu Conrad – der gute, treue Conrad! Damals, ganz zu Anfang, war er genauso verliebt in sie gewesen wie Charles. Aber dessen sprühende Lebhaftigkeit und mitreißender Elan hatten sie gleich so gefangengenommen, daß sie sich nicht die Mühe gemacht hatte, ihn näher kennenzulernen. Ihr Urteil über ihn hatte schnell festgestanden: zu unentschlossen, zu passiv, nicht männlich genug. In den Jahren danach lernte sie ihn allmählich als Freund schätzen, und ihr wurde klar, wie unrecht sie ihm getan hatte. Er war nicht unentschlossen und passiv, nur vorsichtiger als Charles, auch rücksichtsvoller und besaß nicht dessen unbedingtes Durchsetzungsvermögen, das sie inzwischen abstieß, weil sie wußte, was dabei alles auf der Strecke blieb – Anstand, Großzügigkeit, Mitgefühl … Sie rief sich Conrads leises, ein wenig scheues Lächeln ins Gedächtnis zurück, wenn er sah, daß es ihr gutging. Wäre sie heute glücklicher, wenn sie ihn statt Charles geheiratet hätte? Er hatte sie nie gefragt, weil von Anfang an Charles Ansprüche auf sie geltend gemacht hatte. Für Charles wäre Konkurrenz eine Herausforderung und ein Ansporn gewesen, während Conrad sich in solchen Situationen lieber zurückzog. Schon seltsam, dieser Unterschied der Temperamente, und dabei sahen sie sich äußerlich so ähnlich … Aber Charles war durch und durch eine Kämpfernatur, während Conrad … Doch auch diese Einschätzung würde sie vielleicht korrigieren müssen. In den letzten Tagen war bei Conrad eine neue, ganz überraschende Seite zum Vorschein gekommen …
In Cambridge bog sie in die Huntingdon Road ein, die nach Girton führt, wo ihre Schwester wohnte.
Als Betty mit den Sherrygläsern zurück ins Wohnzimmer kam, saß Celia, von heftigem Schluchzen geschüttelt, zusammengekauert in einem Sessel.
»Wenn du darüber sprechen magst, kannst du es mir erzählen, aber du mußt nicht. Hier, trink erstmal einen Sherry, das wird dir guttun. Ich hoffe, du bleibst über Nacht.
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