Die Toten Von Jericho
mißgelaunt, als er an diesem Mittwochnachmittag nach Hause radelte. Er hatte nicht verhindern können, daß sie ihn in der Schule rangekriegt hatten, die Rugbymannschaft seiner Klassenstufe zu komplettieren, und nicht zuletzt sein schlechtes Spiel war schuld daran gewesen, daß sie am Ende doch noch verloren hatten. Er hatte sonst Mittwoch nachmittags fast immer frei, und da mußten sie ausgerechnet heute auf ihn verfallen, wo er die Zeit so dringend gebraucht hätte, um die beiden Aufsätze zu schreiben, die er morgen abgeben mußte. Um diese Zeit, im dicksten Berufsverkehr, waren die Durchgangsstraßen in Summertown natürlich alle völlig verstopft und das Radfahren alles andere als ein Vergnügen. Zweimal mußte er einen gewagten Schlenker fahren, um einem in zweiter Spur stehenden Wagen auszuweichen, dessen Fahrer darauf wartete, in eine gerade frei werdende Parklücke setzen zu können, und wiederholt hatte er scharf bremsen müssen, weil irgendwelche motorisierten Deppen unbedenklich vor ihm die Spur gewechselt und ihn geschnitten hatten. Jede neue Rücksichtslosigkeit verstärkte noch seinen Ärger und seine Wut, dabei war er den Streß im Grunde längst gewöhnt. Es war jeden Tag um diese Zeit dasselbe; aber anders als sonst schien ihm heute jegliche Gelassenheit abzugehen. Vielleicht lag es daran, daß seine Biorhythmen einander superponierten. Er hatte die Begriffe gerade heute im Unterricht neu gelernt, und der Klang der beiden Fremdwörter hatte ihm gefallen. Je mehr er sich dem heimatlichen Herd näherte, um so stärker wurde sein Hunger. Hoffentlich hatte sie heute etwas Anständiges gekocht. Während der letzten zwei Wochen hatte es, wenn auch in wechselnder Folge, stets nur dieselben drei Gerichte gegeben: Gehacktes, Eintopf, Baked Beans. Es hing ihm zum Hals heraus, er wollte endlich wieder einmal Roastbeef mit Yorkshire-Pudding oder Lammbraten mit Minzsauce oder … Zwar wußte er theoretisch, daß er seiner Mutter keinen Vorwurf daraus machen durfte – sie hatte wegen Michael viele Ängste ausgestanden und immer noch auszustehen, und man konnte es ihr nicht verübeln, daß sie anderes im Kopf hatte als einen abwechslungsreichen Speiseplan. Und trotzdem … Mit seinem Vorsatz zu mehr Verständnis war es wie mit dem anderen – weniger zu maulen und sie statt dessen mehr zu unterstützen: sie blieben im Ansatz stecken. Er schob sein Fahrrad in den Schuppen, stellte es unsanft in eine Ecke und stieß dabei mit dem Lenker eine Dose mit Nägeln um. Er fluchte leise, zuckte dann mit den Achseln, nahm seine Tasche vom Gepäckträger und zog krachend das Tor hinter sich ins Schloß.
In der Küche stand seine Mutter am Bügelbrett und war gerade mit einem seiner weißen Hemden beschäftigt.
»Was gibt’s ’n heute zu essen?«
»Ich habe uns einen schönen Eintopf aus …«
»Schon wieder Eintopf?! Verdammte Scheiße, kriegt man denn hier nie etwas anderes als Eintopf, Gehacktes oder …«
Doch unvermittelt brach er ab. Seine Mutter hatte das Bügeleisen beiseite gestellt, er sah wie sie die Schultern hochzog und sich mit den Händen an die Schläfen griff, und dann begannen ihr die Tränen über das Gesicht zu laufen. Kraftlos sank sie auf einen Küchenstuhl, und ein unkontrollierbares Schluchzen erfaßte sie, so daß sie kaum Luft bekam und mühsam nach Atem rang. Edward hatte sie in seinem ganzen Leben noch nie so hilflos gesehen, und die Tatsache, daß seine tüchtige Mutter, die immer zur Stelle war, wenn man sie brauchte, in einen solchen Abgrund der Verzweiflung stürzen konnte, erschütterte seinen Kinderglauben an ihre unbezwingbare Stärke und öffnete ihm gleichzeitig die Augen dafür, wie egoistisch er gewesen war. Die letzte Zeit mußte furchtbar schwer für sie gewesen sein. Er spürte Mitleid mit ihr, und ein lange nicht mehr gekanntes Gefühl tiefer Zuneigung stieg in ihm hoch.
»Nicht weinen, Mutter, bitte! Es tut mir ja so leid. Ich wollte dich nicht …«
Sie schüttelte den Kopf und wischte sich mit einem Taschentuch über die Augen. »Ach, das war es doch gar nicht. Es ist doch nur …« Erneut kamen ihr die Tränen, und sie konnte nicht weiterreden. Edward legte ihr seine Hand auf die Schulter und stand ein wenig linkisch neben ihr – er war es nicht gewöhnt, seine Mutter trösten zu müssen.
»Ich bin dir keine große Hilfe gewesen, was?« fragte er nach einer Weile kleinlaut.
»Ach, mach dir darüber mal keine Gedanken. Das ist nicht der Grund, weswegen ich geweint
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