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Die Toten Von Jericho

Die Toten Von Jericho

Titel: Die Toten Von Jericho Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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habe. Es ist … Die Dinge wachsen mir einfach über den Kopf. Ich habe das Gefühl, als verliere ich allmählich den Boden unter den Füßen, als breche alles zusammen. Ich … ich …« Wieder wurde sie von Schluchzen geschüttelt. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe so sehr versucht …« Sie faßte nach der Hand ihres Sohnes, schluckte und versuchte, ihre Stimme unter Kontrolle zu bringen. »Aber mach dir um mich keine Sorgen. Ich habe heute einen schlechten Tag, das geht vorüber.« Sie stand auf und putzte sich geräuschvoll die Nase. »Wie war dein Tag heute?«
    »Es ist wegen Michael, nicht wahr, Mutter?«
    Sie nickte. »Ich war heute nachmittag bei ihm. Das rechte Auge ist nicht mehr zu retten, und sie wissen nicht, wie das linke …«
    »Das heißt, daß er vielleicht blind wird?«
    Mrs Murdoch nahm wieder das Bügeleisen auf. »Ja. Sie tun alles, was in ihren Kräften steht, aber …«
    »Laß uns nicht die Hoffnung verlieren, Mutter«, sagte er beschwörend. »Vielleicht findest du es ja komisch, daß ausgerechnet ich das jetzt sage, aber im Religionsunterricht in der Schule haben wir mal gelernt, Hoffnung sei eine christliche Tugend, etwas, um das man kämpfen müsse.«
    Wenn Mrs Murdoch es sich gestattet hätte, ihrem Gefühl zu folgen, so hätte sie Edward jetzt in die Arme geschlossen und ihm für seine Worte gedankt. Doch zu zeigen, was in ihr vorging, hatte sie immer Hemmungen gehabt, selbst gegenüber Michael und Edward, und auch jetzt drang nichts von der spontanen Freude, die sie verspürte, nach außen. Sie stellte das Bügeleisen ab, nahm zwei Teller aus dem Schrank, tat sie in den Grill, um sie anzuwärmen, und dachte dabei, wie ihr vorher so geregeltes Leben auf einmal in ein Chaos aus Schmerz und Angst gestürzt worden war. Was hatte sie bloß falsch gemacht, daß nach all den mühevollen Jahren dies das Ergebnis war? Wenn nur ihr Mann noch lebte … Und warum hatten sie sich auch entschlossen … O Gott, so etwas durfte sie nicht einmal denken! Aber viel schlimmer konnte es nun eigentlich nicht mehr werden, oder? Doch tief in ihrem Innern wußte sie, daß sie das ganze Ausmaß dessen, was geschehen war, noch gar nicht richtig erfaßt hatte, und als sie die Topflappen nahm, um die Kasserolle mit dem Eintopf aus dem Ofen zu nehmen, war da einen Moment lang wieder die innere Stimme, die sagte, daß das, was geschah, zu Recht geschah, daß das, was geschah, die Strafe dafür war, daß sie Michael nie so geliebt hatte und nie so lieben würde wie ihren Sohn Edward.
     
    Am Abend betrat der Augenchirurg Michael Murdochs Zimmer, um zu sehen, wie es seinem Patienten ging. Mit allergrößter Vorsicht löste er den Verband, nahm dann seine Armbanduhr ab und hielt sie ihm in ungefähr zwanzig Zentimeter Entfernung vor das linke Auge.
    »Wie fühlst du dich heute, Michael?«
    »Ganz gut. Nur müde – schrecklich müde.«
    »Hast du Hunger?«
    »Nein, eigentlich nicht. Ich habe auch gerade erst gegessen.«
    »Na, das dürfte aber schon eine Weile her sein. Du hast ein paar Stunden geschlafen. Hast du eine Vorstellung, wie spät es jetzt ist?« Noch immer hing die Uhr vor dem Gesicht des Jungen.
    »Es muß später Nachmittag sein. So gegen fünf.«
    Die Zeiger der Uhr zeigten auf 8.45 Uhr. Doch das verletzte Auge, blutunterlaufen und furchtbar anzusehen, konnte sie nicht wahrnehmen und starrte blicklos ins Leere. Der Chirurg legte ihm behutsam wieder den Verband an. Dann blickte er zu der Schwester, die mit kummervollem Gesicht am Fußende des Bettes stand, hob hilflos die Schultern und schüttelte nur traurig den Kopf.
     
    Gegen zehn vor elf, auf dem Rückweg vom Pub, traf Morse Mrs Murdoch, die ihren Labrador spazierenführte und Mühe hatte hinterherzukommen, so sehr zog er an der Leine. Auf diese Weise erfuhr er zum erstenmal, daß Michael Murdoch versucht hatte, sich zu blenden, und dabei ein Auge verloren hatte. Was mit dem anderen sei würde, konnte man jetzt noch nicht sagen … Er hörte sie geduldig und voller Anteilnahme an und schämte sich, daß er nicht mehr zu sagen wußte als »Das tut mir aber leid« und »Das muß ja schrecklich für Sie gewesen sein«. Daß es doch so schwer war, Worte des Trostes zu finden! Er starrte verlegen zu Boden und war erleichtert, daß das sandfarbene Ungetüm von Hund wieder an der Leine zu zerren begann und Mrs Murdoch sich notgedrungen verabschieden mußte, um ihm zu folgen.
    Während er die wenigen hundert Meter zu seinem Haus ging, versuchte

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