Die Toten von Santa Clara: Roman (German Edition)
Fingernägeln – wahrscheinlich von den Kratzern an seinem Hals.«
»Sonst noch irgendwas?«
»Wie sieht das psychologische Profil der Opfer aus?«
»Sie litt unter einer psychischen Erkrankung«, sagte Falcón. »Er scheint keine Selbstmordtendenzen gehabt zu haben, doch auch seine psychische Verfassung weist fragwürdige Aspekte auf.« Falcón berichtete kurz, was er von Dr. Rodríguez erfahren hatte und wie verstört Vega seit Beginn des Jahres gewirkt hatte.
»Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte der Médico Forense. »Es könnte in beide Richtungen gehen.«
»Auf der Gegenseite steht die Tatsache, dass das Opfer eine 9-Millimeter-Pistole hatte, ein unbenutztes Überwachungssystem und kugelsichere Fenster.«
»Der Mann war auf Ärger gefasst.«
»Oder bloß ein nervöser Reicher, der in der Nähe vom Polígono San Pablo lebt.«
»Und das unbenutzte Überwachungssystem?«
»Ebenfalls Nervosität«, sagte Falcón. »Vielleicht war seine psychisch kranke Frau paranoid. Sie hat vor den Nachbarn mit den Fenstern angegeben. Vielleicht wollte Vega auch selbst Eindringlinge abschrecken, gleichzeitig aber keine Aufzeichnungen darüber hinterlassen, wer sein Haus besucht hat.«
»Weil er in kriminelle Machenschaften verwickelt war?«
»Ein Nachbar hat russische Besucher beobachtet, die nicht aussahen, als kämen sie vom Bolschoi-Ballett.«
»Es gibt dieser Tage viele Gerüchte über die russische Mafia, vor allem unten an der Costa del Sol, aber ich wusste nicht, dass sie auch schon in Sevilla angekommen ist«, sagte der Médico Forense.
»Dies ist eine hässliche Art zu sterben, nicht wahr?«
»Rache oder Bestrafung, vielleicht ein Exempel für andere. Was ist mit seinem Sexleben?«
»Sein Schwiegervater sagt, er hätte seine ehelichen Pflichten nur widerwillig erfüllt… auch schon vor der Depression seiner Frau. Seine Schwiegermutter vermutet, dass er eine Affäre hatte, die schief gelaufen ist, weshalb er seit Anfang des Jahres auch so zurückgezogen wirkte«, sagte Falcón. »Gibt es sonst noch etwas, was ich wissen sollte?«
»Eine Sache ist seltsam. Er hatte eine kosmetische Operation am Hals und um die Augen. Nichts Außergewöhnliches, nur die Tränensäcke und ein wenig Haut am Hals wurden entfernt, um das Kinn markanter zu machen.«
»Heutzutage hat jeder Schönheitsoperationen.«
»Das stimmt, aber das ist ja das Seltsame. Die Operation liegt schon länger zurück. Schwer, genau zu sagen, wie lange, aber mehr als zehn Jahre.«
NEUN
A uf dem Weg zur Jefatura fuhr Falcón, während Ferrera den Obduktionsbericht las. Es war Mittagszeit, und die Temperatur war auf fünfundvierzig Grad gestiegen. Kein Mensch war auf der Straße. Wagen schoben die Hitze über den schimmernden Asphalt vor sich her. In der Jefatura bat er Ferrera, die Berichte auf Ramírez’ Schreibtisch zu legen und um 18 Uhr wieder da zu sein.
Die Hitze hatte Falcón jeden Appetit geraubt. Zu Hause schaffte er nur eine Schale Gazpacho, wovon Encarnación einen Tagesvorrat gekocht hatte. Bei der Hitze, die sich in jeder Ecke des Hauses staute, brachte er nicht einmal die Energie auf, die Fotos von Jiménez durchzusehen, die er aus dem Wagen mitgebracht hatte. Er ging nach oben, zog sich aus, duschte und sank in der klimatisierten Kühle seines Schlafzimmers aufs Bett. Sein Verstand ließ schwankend die Bilder des Tages los, er schlief ein und träumte einen wiederkehrenden Traum, in dem er eine öffentliche Toilette betrat, die makellos sauber war, bis er die Spülung betätigte, woraufhin die Schüssel von widerwärtigen Mengen Scheiße überquoll. Er war eingesperrt und musste über die Wand der Kabine klettern, nur um festzustellen, dass auf allen anderen Toiletten das Gleiche passierte, und empfand aufsteigenden Ekel und eine tiefe animalische Panik. Mit schweißnassem Haar wachte er auf, und seine Gedanken blieben bei Pablo Ortega hängen.
Es war 17.30 Uhr. Der Strahl der Dusche trommelte allen Dreck aus seinem Haar und seinem Hirn. Seine Gedanken pendelten unter dem Wasser vor und zurück. Er wusste, warum er diesen Traum geträumt hatte – eine weitere Ermittlung, in der seine eigene Vergangenheit und die aller anderen durch eine Tragödie aufgewirbelt wurde. Unvorbereitet traf ihn lediglich sein nächster Gedankensprung, nämlich dass er Pablo Ortegas Sohn Sebastián im Gefängnis besuchen sollte. Es würde nichts mit seiner Ermittlung zu tun haben, aber die Vorstellung bereitete ihm Wohlbehagen, ein Spalt tat sich
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