Die Toten von Santa Clara: Roman (German Edition)
Missbrauch, weshalb Juez Calderón und die Staatsanwaltschaft es auch geschafft haben, ihn für zwölf Jahre in den Knast zu bringen«, sagte Montes.
»Ich war nicht mit dem Fall betraut, deshalb habe ich das mit dem Anhängen nur gehört, aber ich weiß, dass es stimmt. Wie dem auch sei, die einzige Video-Aussage, die Sie in den Akten finden werden, ist die offizielle, vor Gericht verwendete«, sagte Montes. »Und Sebastián Ortega hat sich das Leben nicht unbedingt leichter gemacht. Er hat nichts zu seiner Tat gesagt. Er hat nie eine eigene Version der Ereignisse zu Protokoll gegeben. Und wenn es keinen Widerspruch gibt, fühlen sich die Menschen zu dichterischer Freiheit ermutigt.
Erste Frage: Warum hat er den Jungen entführt? Zweite Frage: Warum hatte er einen speziell vorbereiteten Raum, in dem er ihn gefangen hielt? Dritte Frage: Warum hat er den Jungen gefesselt? Und in der Vorstellung der Ermittler und Ankläger lautete die Antwort auf all diese Fragen, dass Sebastián Ortega die Tat geplant und ausgeführt hat, um Gelegenheit zu haben, den Jungen nach Belieben zu missbrauchen. Nur… das hat er nicht getan.«
»Was hat er nicht getan?«
»Er hat ihn nicht missbraucht… oder genauer gesagt, gab es keinerlei Indizien dafür, und auch der Junge hat ausgesagt, dass Sebastián Ortega ihn nicht auf diese Weise berührt hätte«, antwortete Montes. »Dann hatte der Juez meines Erachtens eine Unterredung mit den Ermittlern, die mit den Eltern des Jungen gesprochen haben. Und in dem darauf folgenden Video wurde die Aussage des Opfers überzeugender oder fantasievoller, ganz wie Sie wollen.«
»Und was war dann der Zweck der Entführung?«
»Sie kannten sich. Sie waren aus demselben Barrio. Wegen des Altersunterschieds zögere ich, sie Freunde zu nennen, aber das waren sie mehr oder weniger. Sebastián Ortega musste ihn also nicht direkt verschleppen. Er hat ihn in seine Wohnung eingeladen. Danach wurde die Sache ein wenig seltsam, soweit ich das überblicke. Er hat ihn in den vorbereiteten Raum gesperrt und gefesselt. Doch in der ersten Vernehmung hat der Junge gesagt, dass er wegen Ortegas merkwürdigem Verhalten zwar Angst gehabt hätte, jedoch in keiner Weise verletzt oder sexuell berührt worden sei.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Falcón. »Was genau hat Sebastián denn gemacht?«
»Er hat dem Jungen Kindergeschichten vorgelesen, ihm etwas vorgesungen…, offenbar war er kein schlechter Gitarrist. Er hat ihm Mahlzeiten bereitet und so viel Coca Cola vorgesetzt, wie er wollte.«
»Und warum hat er ihn gefesselt?«
»Der Junge hat gesagt, dass er nach Hause müsse, weil sein Vater sonst wütend werde.«
»Und das ging mehrere Tage so?«
»Draußen haben alle den Jungen fieberhaft gesucht. Die Eltern haben Sebastián sogar angerufen, doch er erklärte, dass er den Jungen leider nicht gesehen hätte… ich glaube, er hieß Manolo. Und dann hat er eines Tages einfach aufgegeben… Er hat den Jungen gehen lassen, auf seinem Bett gesessen und auf die Polizei gewartet.«
»Und nichts von all dem ist vor Gericht zur Sprache gekommen?«
»Einiges schon, aber die Staatsanwaltschaft hat ihre Akzente natürlich anders gesetzt als ich. Sie haben Sebastián aggressiver und krimineller dargestellt.«
»Wie erklären Sie sich die Geschichte?«
»Ich denke, Sebastián Ortega ist ein psychisch gestörter junger Mann, der wahrscheinlich nicht ins Gefängnis gehört. Er hat etwas Unrechtes getan, aber kein Verbrechen begangen, das zwölf Jahre schwer wiegt.«
»Und die Ermittler?«
»Die tatsächliche Geschichte war einfach zu merkwürdig. Mit Erfahrung hätte man den Fall vielleicht auf eine Weise angehen können, die die Wahrheit ans Licht gebracht hätte, aber es war Sommer, die beiden ermittelnden Beamten waren jung und unsicher, was sie beeinflussbar machte. Wegen Pablo Ortega waren das Medieninteresse und der Druck groß. Die beiden Beamten wollten nicht dumm dastehen und waren genau wie Juez Calderón angestachelt von der Aussicht auf eine Verurteilung in einem Fall von großem öffentlichen Interesse.«
»Wie schätzen Sie die Rolle des Juez in dem Fall ein?«
»Das geht mich nichts an … offiziell«, sagte Montes. »Aber persönlich bin ich der Ansicht, dass er sich von seiner Eitelkeit hat hinreißen lassen. Nach diesem Fall war er obenauf. Die Berichterstattung war unglaublich. Er ist jung, sieht gut aus, kommt aus einer vornehmen Familie mit den richtigen Beziehungen und… Ja, nun, das ist
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