Die Toten von Santa Clara: Roman (German Edition)
Sebastiáns zitterndem Körper aus.
»Nicht anfassen«, sagte einer der Wärter.
Dennoch legte Alicia tastend eine Hand in Sebastiáns Nacken und flüsterte seinen Namen, worauf die Zuckungen nachließen und er den Griff um seine Schienbeine lockerte. Bis zu diesem Augenblick hatte er trocken geschluchzt, jetzt aber weinte er, wie Falcón noch nie einen Menschen hatte weinen sehen. Die Wärter traten ein wenig verlegen ein paar Schritte zurück, die Krankenschwester verstaute die Spritze wieder in ihrer Tasche. Der Psychologe schien eine Weile zu zögern und entschied dann, den Dingen ihren Lauf zu lassen.
Nach zehn Minuten anhaltendem Weinen drehte sich Sebastián auf die Knie und vergrub das Gesicht in seinen auf dem Boden liegenden Armen. Sein Rücken bebte. Der Psychologe befahl, den Gefangenen in seine Zelle zurückzubringen und ihm ein Beruhigungsmittel zu geben. Die Wärter versuchten, Sebastián auf die Füße zu ziehen, doch er hatte nicht die Kraft zu stehen, also machten sie sich auf die Suche nach einem Rollstuhl. Derweil hob Falcón den Brief auf und gab ihn dem Psychologen. Der Wärter kehrte mit einer Rollliege aus dem Gefängniskrankenhaus zurück, und Sebastián wurde abtransportiert.
Der Psychologe fand, dass man den Brief lesen sollte, um festzustellen, ob sein Inhalt Sebastián weiter verstören würde. Doch auf dem Blatt standen nur wenige Worte.
Lieber Sebastián,
es tut mir mehr Leid, als ich mit Worten ausdrücken kann. Bitte verzeih mir.
Dein dich liebender Vater
Pablo
Falcón und Alicia fuhren vom Gefängnis zurück in die drückende Hitze der Stadt. Alicia starrte aus dem Fenster, während die leblose Landschaft an ihren blinden Augen vorbeiglitt. Falcón kamen allerlei Fragen in den Sinn, doch er stellte sie nicht. Nach dem Anblick derart intensiver Gefühle wirkte alles andere banal.
»Auch nach all den Jahren«, setzte Alicia schließlich an, »bin ich immer noch überrascht von der beängstigenden Kraft der Psyche. In unseren Köpfen lebt ein Organismus, der uns, wenn wir es zulassen, vollkommen zerstören kann, bis zu dem Punkt, wo wir nie wieder dieselben sein können…, und doch gehört dieser Organismus, dieses Wesen zu uns. Wir haben keine Ahnung, was wir da auf unseren Schultern tragen.«
Falcón sagte nichts. Alicia erwartete auch keine Antwort.
»Wenn man so etwas erlebt«, sagte sie, »kann man sich einfach nicht vorstellen, was im Kopf dieses Mannes vor sich geht. Was zwischen ihm und seinem Vater vorgefallen ist. Es war, als ob die Nachricht vom Tod seines Vaters ihn im Kern getroffen hätte, sodass all diese unglaublich machtvollen, nicht einzudämmenden, widersprüchlichen Gefühle aus ihm hervorgebrochen sind. Er hat sich in Einzelhaft eingekerkert und seine persönlichen Kontakte praktisch auf null reduziert. Er hat aufgehört, als menschliches Wesen zu funktionieren, und trotzdem sucht seine Psyche immer noch nach einem Ausweg.«
»Warum ist er Ihrer Ansicht nach erleichtert, hier zu sein?«
»Ich vermute, dass er einen Punkt erreicht hat, an dem er Angst davor hatte, was seine unkontrollierbare Psyche anrichten könnte.«
»Glauben Sie, dass Sie mit ihm reden können?«
»Nun, ich war im Moment von Sebastiáns Krise da – dem Selbstmord seines Vaters –, und ich glaube, wir haben eine Verbindung hergestellt. Wenn die Gefängnisleitung mich lässt, kann ich ihm bestimmt helfen.«
»Ich kenne den Direktor«, sagte Falcón. »Ich erkläre ihm, dass Ihre Arbeit wertvolle Erkenntnisse für meine Ermittlungen im Todesfall Rafael Vega bringen könnte.«
»Sieglauben, dass es eine Verbindung gibt«, stellte sie fest. »Die ganze Geschichte mit Pablo… Ich kann die Rädchen in Ihrem Gehirn förmlich rotieren hören.«
»Ich weiß es, dass es eine Verbindung gibt – ich weiß nur noch nicht, welche .«
Er setzte Alicia Aguado zu Hause ab und versuchte noch einmal, Ignacio Ortega zu erreichen, dessen Handy jedoch nach wie vor ausgeschaltet war.
Consuelo rief an, um zu fragen, ob er sie in der Casa Ricardo zum Mittagessen treffen wollte, einem Lokal auf halbem Weg zwischen ihrem Restaurant und Falcóns Haus. Er beschloss, den Wagen zu Hause abzustellen und zu Fuß zu gehen, und parkte zwischen den Orangenbäumen, um das Tor aufzuschließen. Als er den Schlüssel suchte, rief ihm eine Frau von der anderen Straßenseite her etwas zu. Maddy Krugman war aus dem auf kunsthandwerkliche Kacheln spezialisierten Laden getreten, und auch ihr beiläufiges Gebaren
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