Die Toten von Santa Lucia
Dann eben nicht, dachte Sonja enttäuscht und wütend. Wieder mal nichts als hohle Versprechungen. Das schaffe ich auch alleine. Den Bruder finde ich auch ohne dich. Sie hinterließ keine Nachricht auf seiner Mailbox, wozu auch.
Sie brachte dem Kellner das Handy zurück. »Haben Sie zufällig ein Telefonbuch?«
»Zufällig ja.«
Der zweite Mann grinste. »Sie haben Glück. Das ist vermutlich das einzige Telefonbuch in ganz Neapel, in dem keine Seiten fehlen. Woher kommen Sie?«
»Aus Paris«, sagte Sonja.
»Ah, révolution et amour …«, begann der Mann.
»Gauloises et …«
»Gigino, smettila«, sagte der Kellner. »Siamo a Napoli, in una città per bene.«
Er ließ es sich nicht nehmen, Sonja die beiden dicken Telefonbücher direkt an den Tisch zu bringen. Das Handy legte er oben drauf.
»Voilà Madame. Weiße Seiten, gelbe Seiten. Falls Sie das Telefonino noch brauchen, wirklich kein Problem. Solange Sie nicht stundenlang nach Frankreich telefonieren …« Sie musste ihn völlig perplex angesehen haben, denn er fügte hinzu: »Lange keinen so freundlichen Kellner mehr erlebt, oder? Siamo a Napoli, signora. Eh.« Und es folgte die typische Geste mit der Hand, die italienische Großzügigkeit und Gelassenheit auf den Punkt brachte.
Was hätte sie auch anderes erwarten sollen: Natürlich war der Name Vittorio Di Napoli fast genauso häufig wie der seines Bruders. Sie überlegte. Vielleicht war Vittorio seinem Metier treu geblieben und betrieb irgend eine Art Sportgeschäft? Einen Fußballshop? Fanartikel vom SSC Neapel? Sie suchte unter den entsprechenden Stichworten, ohne Erfolg. Als nächstes schlug sie die Nummer vom Mattino nach. Sie landete in der Telefonzentrale und bat darum, in die Nachrichtenredaktion durchgestellt zu werden.
»Mit wem möchten Sie sprechen?«
Sonja nannte aufs Geratewohl den Namen des Journalisten, der den Artikel am Tag nach dem Mord geschrieben hatte, und hoffte, dass Gaspare Del Santo nicht längst pensioniert war.
»Worum geht es?«
Die Frau am anderen Ende der Leitung schien nicht gewillt zu sein, alle x-beliebigen Anrufer nach Verlangen einzulassen ins geheimnisumwitterte Reich der größten neapolitanischen Tageszeitung.
Sonja war es von Berufs wegen gewohnt, abgewimmelt zu werden. Sie sei eine Kollegin aus Deutschland, sagte sie sachlich und mit einer wohldosierten Prise Arroganz. Wenn Gaspare nicht zu sprechen sei, wünsche sie, direkt mit dem Chef vom Dienst verbunden zu werden, es sei dringend.
Sie hatte Glück. Der Ton war der richtige gewesen, Del Santo gehörte noch zur Redaktion, und sie wurde kommentarlos weiterverbunden.
»Una collega dalla Germania …«
Gaspare Del Santo war umgänglicher als die Telefonhüterin am Empfang. Er fand die üblichen anerkennenden Worte für Sonjas gutes Italienisch. Kurzes Geplänkel. Was er für sie tun könne? Ja, natürlich erinnere er sich an den Mordfall Di Napoli.
Sonja sagte, sie habe zufällig den Artikel in die Hand bekommen, den er damals kurz nach dem Mord verfasst habe. Sie sei beeindruckt, wie er die Sache auf den Punkt gebracht habe. Del Santo freute sich hörbar über ihr Lob. Die Sache sei ja mittlerweile über zwanzig Jahre her. Der Bruder? Ja, Vittorio Di Napoli, richtig. Doch, wenn ihr das weiterhalf, könne er die Telefonnummer für sie herausfinden. Warum diese alte Geschichte sie überhaupt interessiere?
Ich war seine Geliebte, dachte Sonja und blieb zu ihrer eigenen Überraschung innerlich ganz ruhig.
»Wir hatten hier vor kurzem einen ganz ähnlichen Fall …«, sagte sie laut. Sie schreibe an einer größeren Reportage über Journalisten, die auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen waren wie Georgij Gongadse aus der Ukraine und zahlreiche Kollegen aus Indonesien, den Philippinen und Südamerika.
»Ho capito. Certo.« Del Santo zeigte volles Verständnis. »Wie kann ich Sie erreichen?«
Das war eine gute Frage und eindeutig der Schwachpunkt ihres Vorgehens.
»Per E-Mail«, rief sie, »Moment, mi scusi, da kommt gerade ein anderes Gespräch in die Leitung, scusitanto, ich rufe Sie in zehn Minuten zurück, va bene? millegrazie, ciao.« Sie legte schnell auf, bevor Gaspare Del Santo etwas einwenden konnte.
Zehn Minuten später notierte sie sich die Nummer von Vittorio Di Napoli und bedankte sich überschwänglich bei ihrem neapolitanischen Kollegen – vielleicht könne sie sich einmal revanchieren.
Unter der gewählten Nummer meldete sich eine Frau. Sie sagte, ihr Mann sei um diese Zeit im
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