Die Toten von Santa Lucia
erinnerte. Sie sagte nichts. Sie wartete ab, dass Antonios Bruder weitersprach. Der Bildschirmschoner im Hintergrund ließ unentwegt bunte geometrische Figuren über den dunklen Monitor laufen. Es war irritierend, wie ein ständig sich veränderndes Gemälde, und Sonja versuchte nicht hinzusehen.
»Was ihn drittens antrieb«, fuhr Vittorio fort, »war die persönliche Betroffenheit. Unsere Familie gehört zu den Erdbebenopfern. Fünf Jahre lang waren wir nach dem Unglück in einem Containerdorf untergebracht. Ich war damals vierzehn, Antonio zwanzig, Filomena, unsere Schwester, siebzehn. Dank des Medienrummels bekamen meine Eltern nach Toninos Tod eine Wohnung in Secondigliano. Eine einzige Betonwüste, mit der aber viel Geld verdient worden ist, fahren Sie bloß nicht hin. Meine Mutter wohnt jetzt wieder in der Stadt. Von den Geldern aus Rom – und davon gab es jede Menge – haben wir damals keine einzige Lira gesehen. Wie auch sonst kaum einer der Leute, denen das Haus überm Kopf zusammengebrochen war. Der Löwenanteil landete in den Taschen von Camorrabossen, korrupten Bauunternehmern und bestechlichen Politikern. In den Prozessen der Neunzigerjahre ist das ja zum Teil ans Licht gekommen. Aber auch nur zum Teil. Das war und ist ein Fass ohne Boden. Tonino wollte auf Teufelkommraus wissen, wo das viele Geld gelandet war. Konkrete Details. Namen. Querverbindungen. Zusammenhänge. Und was viel schlimmer war: Er wollte es beweisen.« Vittorio legte den Kopf zur Seite. »Aber warum erzähle ich Ihnen das alles. Sie haben ihn ja kaum gekannt.«
»Und – hat er Beweise gefunden?«, fragte Sonja mit gespielt beherrschter Stimme, während ihr ganz schlecht wurde bei dem Gedanken an die Unterlagen, die jahrelang in dem braunen Umschlag bei ihr auf dem Dachboden geschmort hatten und sich jetzt in Luzies Händen befanden.
»Offensichtlich«, sagte Vittorio. »So offensichtlich, dass jemand ihm postwendend eine Kugel in den Kopf gejagt hat, bevor irgendetwas davon publik wurde. Antonio wollte natürlich veröffentlichen, was er herausgefunden hatte. Wahrscheinlich hat er das irgendwann den falschen Leuten gegenüber erwähnt.«
»In einem der Artikel stand, er hätte eine Warnung erhalten.«
Vittorio lachte bitter. »Ja, das hätten die gern so gehabt. Das macht Eindruck.« Er zeigte mit dem Finger auf Sonja. »Sie sind doch selbst Journalistin. Sie müssen doch wissen, wie wenig von dem Zeug, das in der Zeitung steht, den Tatsachen entspricht.«
»Aber …«, Sonja zögerte, »diese Unterlagen, von denen die Rede ist …«
»Was ist damit?«
»Gab es die wirklich oder ist das auch nur erfunden?«
»Sie wurden jedenfalls nie gefunden«, sagte Vittorio. »Aber nicht nur ich gehe davon aus, dass es diese hoch belastenden Unterlagen gab.«
»Ist es nicht möglich, dass Antonio von dem ganzen Material, das er gesammelt und geschrieben hatte, eine Kopie gemacht und irgendwo deponiert hatte?«, fragte Sonja, die ihre Aufregung jetzt kaum noch verbergen konnte.
»Moment mal, Sie wollen doch wohl nicht etwa nach diesem unseligen Manuskript forschen? Davon kann ich Ihnen nur abraten, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist. Zwanzig Jahre sind zwar eine lange Zeit. Seither haben sicher einige der Schuldigen längst ins Gras gebissen, aber garantiert nicht alle …« Er schüttelte den Kopf. Dann lächelte er nachsichtig und ein wenig traurig. »Außerdem – Sie kannten Tonino nicht.«
Ein Satz wie eine Ohrfeige – dabei war es mit Sicherheit die Wahrheit, sie kannte Antonio wirklich nicht, wie sollte sie auch, nach der kurzen Zeit?
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragt sie mit einem unmerklichen Zittern in der Stimme.
»Er hat seine Sachen immer gern allein durchgezogen. Außerdem war er mein großer Bruder. Wahrscheinlich ziehen große Brüder ihre kleinen Brüder nie ins Vertrauen. Wahrscheinlich sollte ich froh darüber sein. Wahrscheinlich bin ich deshalb noch am Leben … Nein, so eine Kopie ist nie aufgetaucht. Und, ehrlich gesagt, wenn ich in den Besitz dieser Kopie gekommen wäre, dann hätte ich sie augenblicklich vernichtet. Ein Mord reicht.« Er ließ den Zigarettenstummel auf den Boden fallen und zerquetschte ihn mit dem Schuh wie ein ekliges Insekt.
Sie musste ihm von Luzie erzählen, dachte Sonja. Sie musste ihm von dem Manuskript auf dem Dachboden erzählen.
»Damals in Venedig sind Antonio und ich …«, begann Sonja, aber an der Stelle klingelte das Telefon. Es war ein Kunde, der Probleme mit seinem
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