Die Toten von Santa Lucia
telefoniert hatte, in Wirklichkeit gemeint hatte: Antonio ist tot, Antonio ist gestorben. Maris und Sonja konnten sich damals zwar auf Italienisch verständigen, aber lange nicht gut genug, um Bedeutungsschattierungen der Sprache zu kennen. Also hatten sie sich den Satz im einfachen, direkten Wortsinn übersetzt, andarsene als weggehen: Antonio ist weg, Antonio ist nicht mehr da. Nie im Leben wäre Sonja in der Obhut ihrer Kränkung auf die Idee gekommen, die Frau könnte etwas anderes gemeint haben, obwohl man es auch im Deutschen zuweilen so ausdrückte: Er ist von uns gegangen … »Kssss«, machte es hinter ihr. Sie erschrak; blieb stehen, sah sich um. Ein Mann saß unter einer Palme auf einer Bank und grinste sie gierig an, die Beine weit und vor allem breit von sich gestreckt. Es sollte vermutlich einladend wirken. »Ksss … vieni qua, bellina …«
Der hatte sie wohl nicht mehr alle.
Sie ging rasch weiter. Der kleine Zwischenfall hatte sie wieder in die Realität geholt, ihre Stimmung war umgeschlagen. Ihr Schmerz zog sich zurück wie das Wasser bei Ebbe. Was blieb, waren offene Fragen.
Weshalb, fragte sie sich und kniff die Augen zusammen, weshalb hatte sie eigentlich nichts von Antonios Tod erfahren? Weshalb hatte niemand sie angerufen? Antonio hatte doch sicherlich Familie, Eltern, vielleicht sogar Geschwister. Hatte keiner von ihnen von dieser Liaison in Hamburg gewusst? Und diese Freunde, die damals in Venedig mit von der Partie waren – und in diesem Moment wusste sie plötzlich wieder die Namen, die sie all die Jahre hindurch ebenfalls verdrängt hatte, jeden einzelnen, – Sergio, Franco und Gianluca –, hatte Antonio etwa mit keinem von ihnen über Sonja und das Kind, das sie von ihm erwartete, gesprochen? So musste es sein, es gab keine andere Erklärung, denn andernfalls hätte bestimmt irgendwer versucht, mit Sonja Kontakt aufzunehmen und ihr die Nachricht von seinem schrecklichen Tod zukommen zu lassen … Und wenn das so war, wenn Antonio tatsächlich mit keiner Menschenseele darüber gesprochen hatte, dann konnte Sonja sich keinen anderen Grund dafür denken, als den, an dessen Vereisung sie sowieso all die Jahre hindurch gearbeitet hatte: Dass Antonio Sonja nicht geliebt hatte. Dass er kein Verlangen gespürt hatte, keine Sehnsucht. Dass die Zeit mit ihr für ihn nichts als ein Zwischenfall gewesen war, eine Fußnote in der Ewigkeit, und sie und sein Kind, ihrer beider Kind, waren ihm gleichgültig gewesen, so gleichgültig, dass er es nicht einmal für nötig gehalten hatte, irgendwem davon zu erzählen.
Sie spürte, wie die alte Wut und die Bitterkeit sich aufs Neue in ihr breit machten, den Schmerz an den Rand zu drängen versuchten. Vermutungen, nichts als Vermutungen – es war alles so hundserbärmlich verwirrend.
23
Zwischen Palmen und Büschen schimmerte etwas Rotes. Sonja kam zu einer Art Kiosk, vor dem unter roten Sonnenschirmen ein paar Tische und Stühle aufgestellt waren. An einem der Tische saßen zwei Männer und rauchten. Als Sonja sich setzte, stand einer von ihnen auf, kam an ihren Tisch und fragte sie nach ihren Wünschen. Sie bestellte einen Cappuccino. Der Zigarettenrauch zog zu ihr herüber. Sonja hatte vor zehn Jahren aufgehört zu rauchen und würde einen Teufel tun, wieder damit anzufangen, aber von Zeit zu Zeit passierte es, dass der altbekannte Duft sie nicht störte, sondern verführerisch anwehte, dann sog sie ihn genüsslich ein und bedauerte für diesen kurzen Moment, dass dieser Weg zur Entspannung ihr nicht mehr offen stand. Jetzt eine Zigarette …
Sie kramte die Papiere, die Gentilini für sie zurückgelassen hatte, aus dem Rucksack und faltete sie auseinander.
Auf dem ersten Blatt befanden sich nur wenige allgemeine Angaben zur Person von Antonio Di Napoli, Körpergröße, Augenfarbe, Haarfarbe, Geburtsdatum undsoweiter. Sonja wollte es schon zur Seite legen, als sie bei der Rubrik Beruf stutzte: Journalist. Das war doch nicht möglich. Antonio hatte tatsächlich den gleichen Beruf gehabt wie sie.
Damals in Venedig hatte sie noch gar nicht gewusst, dass sie Journalistin werden wollte. Sie hatte gerade erst das Abitur in der Tasche und schwankte zwischen einer Dolmetscherausbildung, einer Tischlerlehre und einem Philologiestudium. Antonio hatte gesagt, er studiere Politik. Und nebenbei verfasse er manchmal Gedichte, nur so zum Spaß, die er dann vertone, ein bisschen so wie Paolo Conte, aber natürlich kein Vergleich. Wovon er damals gelebt hatte?
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