Die Toten von Santa Lucia
Hier ein Job und da ein Job. Das konnte vieles heißen, auch kleine Jobs bei einer Zeitung. Das war normal. Die meisten Leute, die Sonja damals kannte, hatten hier und da einen Job, und in der restlichen Zeit lebten und träumten sie von allem anderen, was sie später machen würden. Und sie und Antonio? Hatten sie damals laut geträumt? Von einer Karriere im Land der Printmedien? Hatten sie darüber gesprochen? Auf ihren Spaziergängen durch die Stadt hatten sie lebhaft diskutiert, über die politischen Systeme in Italien und in der Bundesrepublik, die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede, was Mussolini von Hitler unterschied und weshalb das Nord-Süd-Gefälle in Italien so viel krasser ausfiel als in Deutschland, auch über die RAF und die Roten Brigaden und die USA und den Kommunismus und denkbare Alternativen zum Kommunismus und über den Einfluss des organisierten Verbrechens und die Teilung Deutschlands. Allgemeinheiten, worüber man eben so sprach. Aber was hatte Antonio ihr aus seinem Leben erzählt? Aus seinem Alltag? Von Eltern, Geschwistern (falls es überhaupt welche gab), Kindheit? Eben nichts. Sonja erinnerte sich nur an Allgemeinplätze über Neapel, letztlich nichts Konkretes.
Konkret ist immer nur die Wirklichkeit, die man gerade lebt. Ja, das hatte er gesagt, genau so oder zumindest fast. Vermutlich irgendein Zitat. Klang trotzdem gut. Den Moment leben. Carpe diem.
Konkret ist aber auch der Tod, dachte Sonja. Und dieser Tod, Antonios Tod, war kein Zufall, ganz und gar nicht.
Sie nahm sich das zweite Blatt vor, einen Zeitungsartikel, der offenbar am Tag nach dem Mord erschienen war, Ende März 1985. Die Überschrift lautete: Giovane cronista ucciso a Santa Lucia.
Sonja erschauderte, ihre Hand zitterte so stark, dass die Buchstaben vor ihren Augen hin und her hüpften. Sie legte das Blatt vor sich auf den Tisch und holte Luft, wie um sich zu stärken.
Der Mord war früh am Morgen verübt worden. Antonio Di Napoli, ein junger, talentierter Nachwuchsjournalist, hieß es in dem Artikel, pflegte regelmäßig auf dem Borgo Marinaro zu angeln …
Beim Angeln, wiederholte Sonja leise, wie um die Nachricht auf diese Weise fassbarer zu machen. Das Bild von Antonio, der in Hamburg am Leinpfad die Angelschnur in die Alster auswarf, schob sich augenblicklich über das Bild vom Borgo Marinaro, wo Sonja zwei Tagen die friedliche Morgenstimmung genossen hatte.
Ein Fischer eines gerade in den Hafen einlaufenden Bootes hatte bezeugt, das Opfer sei nicht allein gewesen. Er war noch etwa zweihundert Meter entfernt gewesen und hatte den Schuss aufgrund des Motorenlärms nicht gehört, aber deutlich gesehen, dass sich zwei Männer am Tatort befanden. Als er sein Boot vertäut hatte, bemerkte er, dass einer der Männer am Boden lag, vom anderen war nichts mehr zu sehen. Eine ähnliche Aussage hatte die Putzfrau eines nahe gelegenen Restaurants gemacht. Sie habe durch die Fensterscheibe beobachtet, wie einer der beiden Männer plötzlich zusammensackte, während der andere blitzartig verschwunden war. Aber dass der zweite Mann geschossen hatte, mochte sie nicht beschwören.
Der Verfasser des Artikels stellte die These auf, dass der Mörder im Umfeld der Camorra zu suchen sei, vermutlich ein Auftragskiller. Denkbares Motiv seien die Artikel, die der jüngere, noch unerfahrene Kollege in den letzten Monaten verfasst hatte. Darin hatte Di Napoli die Verfilzung von Politik, Justiz und Camorra angeprangert: mit Hauptaugenmerk auf den Milliardenbeträgen, die nach dem Erdbeben 1980 als Wiederaufbaugelder nach Neapel und in die gesamte Region geflossen, dort aber auf Nimmerwiedersehen in unterirdischen Kanälen versickert waren. Diese Kanäle habe Di Napoli, dessen Familie selbst Opfer der Erdbebenkatastrophe geworden war, aufzuspüren und nachzuverfolgen versucht. Möglicherweise war ihm das zum Verhängnis geworden.
In dem Artikel wurde außerdem Vittorio Di Napoli zitiert, Bruder des Opfers und, wie es hieß, den Lesern als Ersatztorhüter des SSC Napoli bekannt. Antonio hat vor zwei Wochen eine Warnung erhalten, hatte Vittorio dem Journalisten anvertraut. Er und seine Familie stünden noch immer unter Schock.
Was denn für eine Warnung?, dachte Sonja. Und offenbar gab es einen Bruder …
Sein sympathischer junger Kollege habe sich nicht abschrecken lassen, schrieb der Journalist weiter, Di Napoli habe nicht aufgehört, im Trüben zu stochern und unliebsame Fragen zu stellen, was nun einmal die Aufgabe eines jeden
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