Die Toten von Santa Lucia
Laden zu erreichen. Sonja notierte eine weitere Telefonnummer und wählte erneut.
»Scusi«, sagte sie, als ein Mann sich meldete, ohne seinen Namen zu nennen, »ich habe nur diese Telefonnummer, können Sie mir bitte die Adresse des Ladens geben, damit ich …« Sie hatte keine Ahnung, um was für eine Sorte Laden es sich überhaupt handelte.
»Corso Vittorio Emanuele«, unterbrach sie der Mann, »direkt am Petraio.« Er hatte eine angenehm dunkle Stimme. »Aber heute Nachmittag haben wir geschlossen.«
»Oh«, machte Sonja, und ihre Enttäuschung war echt.
Ob Vittorio Di Napoli zu sprechen sei?
»Am Apparat. Lei, chi è?«
Sie zögerte. Sie wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen, aber auch nicht auf den nächsten Tag vertröstet werden. »Ich … bin eine Freundin ihres Bruders Antonio«, sagte sie schließlich. »Aus Deutschland.«
Der Mann am anderen Ende schwieg. »Was wollen Sie?«, fragte er nach kurzer Pause. Seine Frage klang weder feindselig noch misstrauisch, aber auch nicht gerade begeistert.
Sonja suchte nach Worten. »Ich … ich wusste bis heute früh nicht, dass er tot ist«, begann sie, »also, dass er schon seit zwanzig Jahren …« Sie brach ab. Ihre Stimme flatterte. Sie spürte ein Würgen in der Kehle, schluckte.
»E allora?« Der Mann kam ihr nicht gerade mit ausgebreiteten Armen entgegen. Er kam ihr überhaupt nicht entgegen.
Sie fasste sich wieder. »Kann ich mit Ihnen reden?«
Er schwieg.
»Ich muss mit Ihnen reden, bitte, es ist wichtig.«
»Dann reden Sie.«
»Nicht jetzt, nicht hier, am Telefon …«
»Non ho capito, wollen Sie etwa extra zweitausend Kilometer …?«
»Ich bin hier, in Neapel. Bitte, es ist wirklich wichtig für mich.«
Seine Stimme wurde um einen Halbton freundlicher. »Gut, dann kommen Sie meinetwegen hoch in den Laden. Kennen Sie sich in Neapel aus? Sie nehmen die Funicolare Centrale, die Talstation ist bei der Via Roma, schräg gegenüber von der Galleria. An der ersten Station steigen Sie aus. Dann rechts raus gehen, es sind nur etwa zweihundert Meter bis zum Laden. Nicht zu verfehlen. Klopfen Sie an die Tür. Ich bin da.«
»Wie heißt der Laden?«, fragte Sonja.
»Ach so, das wissen Sie gar nicht?« Er lachte leise, es hörte sich an wie ein Gurgeln. »Cogli la mela.«
»Ein Obstgeschäft?«
Das Lachen wurde lauter und glucksender. »Es ist ein Computerladen, cara signora. Ich verkaufe und repariere Apple-Computer.«
25
Eine halbe Stunde später stand Sonja dicht an dicht in einem Pulk von Leuten in einem uralten Waggon, der rumpelnd und klappernd in einem nach Staub, Feuchtigkeit, Erde und Gestein riechenden Tunnel bergan gezogen wurde. Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten.
Als Sonja aus der rumpelnden Höhle oberhalb der Quartieri Spagnoli auf die Straße trat, war sie vom grellen Licht wie geblendet. Halb zwei – die Mittagssonne knallte gnadenlos auf den breiten Corso herab. Sonja war die einzige Fußgängerin weit und breit. Auf ihrer Straßenseite reihte sich ein mehrstöckiges Mietshaus an das nächste, im Erdgeschoss befanden sich Läden, Werkstätten, die meisten Rollläden aber waren heruntergelassen.
Sie hatte Herzklopfen. Sie versuchte sich Antonios Gesicht in Erinnerung zu rufen, ohne aufs Neue das passbildgroße Foto auf dem Computerausdruck zu Hilfe zu nehmen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie Antonio zwanzig Jahre älter ausgesehen hätte. Manchmal sahen Brüder sich verdammt ähnlich.
Der Computerladen war tatsächlich leicht zu finden. Auf dem Schaufenster prangte ein riesiger regenbogenfarbener Apfel. In der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift chiuso.
Sonja klopfte. Ihr Herz raste. Von innen näherte sich ein Schatten, dann schälte sich ein Gesicht heraus, ein Mann in Jeans und T-Shirt öffnete die Tür und – nein, keine Ähnlichkeit, die ihr schmerzlich ins Gesicht gesprungen wäre. Vittorio Di Napoli war einen halben Kopf kleiner als Sonja – und als Antonio –, ein Enddreißiger mit erstem Bauchansatz. Er hatte dunkle, wache Augen hinter einer Nickelbrille, seine leicht wuscheligen Haare lichteten sich am Hinterkopf. Kein zweiter Antonio. Ihr Herz konnte sich zurücklehnen und vom Gas gehen.
Der Computerladen machte einen chaotischen Eindruck. An den Wänden stapelten sich Kartons, überall standen Computer, Bildschirme, Drucker herum, Zubehör, Kabel, Laufwerke, Stöße von Papier und Zeitschriften. Auf dem Schreibtisch ruhte neben einer zehn Zentimeter hohen Schicht Briefe ein Teller mit Resten von
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