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Die Toten von Santa Lucia

Die Toten von Santa Lucia

Titel: Die Toten von Santa Lucia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Krohn
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Journalisten sei: Aufklärung, Recherche, nicht Schönschreiberei. Diese aufrechte Haltung habe Antonio Di Napoli mit dem Leben bezahlen müssen. Auch wenn er erst seit gut einem Jahr als freier Mitarbeiter für die Zeitung geschrieben habe, trauere die gesamte Redaktion um ihn wie um einen langjährigen Kollegen und Freund.
    »Antonio, wir vergessen dich nicht«, lautete der letzte Satz. Sein Pathos war durchschlagend und löste bei Sonja eine Tränenflut aus.
    Der Mann, der ihr den Cappuccino gebracht hatte, näherte sich ihrem Tisch und legte diskret ein halbes Dutzend Papierservietten neben ihre Tasse. Dann kam er noch ein zweites Mal und stellte ein Schnapsglas mit einer dunklen Flüssigkeit vor ihr ab.
    »Das hilft«, war sein einziger Kommentar.
    Sonja musste wider Willen lächeln. Das Weinen wirkte wie eine kleine Befreiung. Sie putzte sich die Nase und wischte die Tränen ab, die immer wieder nachflossen.
    Die Flüssigkeit im Glas sah aus wie ein Amaro und schmeckte auch wie ein Amaro. Sonja hätte so etwas nie freiwillig bestellt. Sie kippte das Gesöff mit Todesverachtung herunter. Er schmeckte noch bitterer, als sein Name verkündete. Wie Gentilini gesagt hatte: Das Leben hier ist bitter wie ein Amaro Averna … Wirklich hatte die Stadt seit ihrer Ankunft viele bittere Seiten für sie bereitgehalten, so dass sie sich jetzt fragte, ob Neapel überhaupt schöne, süße Seiten hatte – la dolce vita eben …
    Sie schüttelte sich. Die beiden Männer, die nun am Tresen des Kiosks standen und zu ihr herübersahen, machten eine zustimmende Geste und grinsten kurz. Sie nickte ihnen zu.
    Als Letztes nahm sie sich das dritte Blatt vor – ein weiterer Zeitungsartikel, erschienen zum zehnten Todestag. Darin wurde mit flammenden Worten beklagt, dass sich Antonio Di Napolis Mörder auch zehn Jahre nach der Tat noch auf freiem Fuß befanden und die Kriminalpolizei den Fall längst zu den Akten gelegt hatte. Die Fährte des zweiten Mannes, der am Tatmorgen am Borgo Marinaro gesichtet worden war, sei nie ernsthaft weiterverfolgt worden, schrieb der Journalist. Der Taxifahrer, der die Ermittler auf die Spur eines Mopedfahrers gebracht hatte, der den Tatort etwa zur Tatzeit fluchtartig verlassen hatte, war ein halbes Jahr später auf mysteriöse Weise tödlich verunglückt. Der Mopedfahrer wiederum, den Behörden aus dem Umfeld der Camorra rund um den Vesuv bekannt, hatte ein überaus zweifelhaftes Alibi vorgelegt. Ein verhafteter Camorrist hatte ausgesagt, Di Napoli sei wegen eines geplanten Berichts über einen Swinger-Club aus dem Verkehr gezogen worden, die Behauptung war aber später widerrufen worden. Seither war eine ganze Reihe von Camorristen und Auftragskillern hinter Gitter gekommen, die alle möglichen Verbrechen gestanden hatten – keiner aber wollte den Mordauftrag Di Napoli erhalten, geschweige denn ausgeführt haben. Viele Ehrenworte. Diverse falsche Fährten. Und der unbekannte zweite Mann, möglicherweise mit dem Täter identisch, hatte sich dank der Mühlen der Zeit in nichts aufgelöst. Was ebenso für das ominöse Manuskript galt, an dem Di Napoli laut Aussagen zweier Freunde in den Monaten vor dem Mord wie ein Besessener gearbeitet hatte und das, wie nach seinem gewaltsamen Ende nahe lag, vielleicht Aufschluss über Namen, Drahtzieher und bisher nicht aufgedeckte Verflechtungen in den Kreisen von Politik, Wirtschaft, Justiz und organisiertem Verbrechen geben könnte. Diese Unterlagen seien ebenfalls nach wie vor verschwunden und würden vermutlich auch nie wieder auftauchen. Ein einziges Ermittlungsdesaster, schrieb der Journalist anklagend. Die Erinnerung an den sympathischen Kollegen aber …
    Sonja ließ das Blatt sinken. Nein, dachte sie, im Nu schweißgebadet, neinneinnein!
    Das Manuskript … was für ein Manuskript … der Koffer … der braune Umschlag … Monate unterwegs … Als sie den Koffer gefunden hatte, war er leer gewesen … aber das Manuskript, der Umschlag … Luzie musste ihn herausgenommen haben … Luzie war weg und Libero Zazzera war tot … was hatte das alles miteinander zu tun …wie hing das alles zusammen …
    Sie winkte dem Kellner und zeigte mit dem Daumen auf ihr Glas. Als er ihr einen neuen Amaro brachte, legte sie einen Zehn-Euro-Schein auf den Tisch und fragte ihn, ob er ein Handy habe und ob sie kurz telefonieren dürfe.

24
    Gentilini hatte zwar gesagt, sie könne ihn jederzeit erreichen, aber jetzt antwortete er weder in seinem Dienstzimmer noch auf dem Handy.

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