Die Toten von Santa Lucia
Tomatensauce und Brotkrümeln, darin ein leerer Espressoplastikbecher. Immerhin war es hier drinnen kühler. Zwei Ventilatoren surrten auf den Schreibtischen leise vor sich hin.
Vittorio Di Napoli bot ihr einen Stuhl an und setzte sich mit dem Rücken zum Schreibtisch auf einen Drehstuhl. Er fischte nach einem Päckchen Zigaretten.
»Rauchen Sie?«
Sie verneinte. Er zündete sich eine Zigarette an. Er stieß den Rauch aus und sagte, regelmäßig zu den Jahrestagen riefen jede Menge Leute an, vor allem Journalisten. Dann wurde die ganze dreckige Sache von damals wieder ans Licht gezerrt. Zuletzt war das vor zwei Monaten der Fall gewesen.
»Mir reicht’s für die nächsten fünfzig Jahre.« Er seufzte. »Zwanzigjähriges Jubiläum. Sie haben am Telefon gesagt, Sie wollen mit mir reden.«
Sonja begann zu erzählen, wie sie und Antonio sich im September 1984 auf dem Zeltplatz an der Lagune von Venedig kennen gelernt hatten – allerdings wählte sie die unverfängliche Version: Man habe Telefonnummern ausgetauscht, danach sei der Kontakt leider abgerissen, jetzt sei sie zum ersten Mal in ihrem Leben in Neapel.
»Vor der Reise dachte ich, es wäre nett, Antonio nach so langer Zeit wiederzusehen«, fuhr sie fort. »Also habe ich im Internet seinen Namen in die Suchmaschine eingegeben, weil ich dachte, vielleicht hat er eine Homepage oder …« Sie stockte. Und bei dieser Suche sei sie dann auf die Berichte über seinen Tod gestoßen. Zufällig sei sie auch Journalistin und deshalb natürlich daran interessiert herauszufinden …
»… wer hinter dem Mord an meinem Bruder steckt?« Vittorio machte eine abwehrende Handbewegung. »In Neapel gibt es dazu einen treffenden Spruch: Ognuno si fa i cazzi suoi. Soll heißen, man steckt die Nase nicht in fremde Angelegenheiten. Vergessen Sie’s. Hier wartet keine Erfolgsstory.« Er lehnte sich zurück und musterte Sonja durch seine Brille. »Sie würden sich mehr als nur die Finger an dieser Geschichte verbrennen. Ähnlich wie mein Bruder …« Er drückte die Zigarette in einem längst überquellenden Aschenbecher aus. »Wir haben ihn alle gewarnt, aber er wollte es nicht lassen. Er war wie besessen von diesem Thema. Wenn Sie die Artikel im Internet gelesen haben, dann wissen Sie ja in etwa, worum es ging.«
Sonja nickte, auch wenn sie nur eine vage Vorstellung davon hatte. »Hat Antonio mit Ihnen darüber gesprochen, was er herausgefunden hatte?«
Vittorio lächelte dünn und schnalzte mit der Zunge. »Wie oft ich diese Frage schon gehört habe … Alle wollen sie wissen, ob er mir etwas Konkretes erzählt hat. Die Antwort lautet: No. Niente. Nada. Wie sagt man auf Deutsch?«
»Nichts.«
»Esatto.« Er zündete sich eine neue Zigarette an. »Und wenn er mir oder sonst jemandem etwas erzählt hätte, würden wir jetzt wahrscheinlich genau wie er die Radieschen von unten zählen. Tonino war unbekümmert, aber nicht naiv. Das Risiko, das er einging, wenn er im direkten Umfeld der Camorra recherchierte und sogar über die Ergebnisse seiner Recherchen schrieb, war ihm durchaus bewusst. Aber seine Besessenheit war größer. Es kann einfach nicht sein, dass diese Leute unter unser aller Augen morden, rauben, schmuggeln, betrügen, erpressen, bestechen und all das wieder von vorn, hat er immer wieder gesagt. Dass niemand sie belangt und die Mistkerle immer wieder ungeschoren davonkommen. Und wenn jemand Anklage erhebt, dann wird die Anklage abgeschmettert, weil auch vor Gericht irgendwer eine schützende Hand über die Angeklagten hält. So ähnlich hat er es ausgedrückt. Aber das sind natürlich Allgemeinplätze, solche Sprüche hört man mittlerweile überall. Solange es Verbalanklagen bleiben, schaden sie nicht. Wie sagt man auf Deutsch? A nessuno?«
»Niemandem.«
»Seine Besessenheit war groß und sein Ehrgeiz nicht weniger«, fuhr Vittorio fort. »Wer Journalist werden will, muss in Italien einen Knüller hinlegen, hat er immer gesagt, es sei denn, er ist mit dem Chefredakteur oder mit dem Kardinal verwandt. Beides ist bei uns in der Familie nicht der Fall. Also hat Antonio gegraben und gebohrt und recherchiert. Er wollte eine Sensationsstory, und er wollte die Wahrheit.« Vittorio verzog den Mund. »Die steht in Italien nicht besonders hoch im Kurs, heute nicht und damals schon dreimal nicht.«
Er inhalierte tief, schloss die Augen, hielt die Luft an. Dann ließ er den Rauch durch die Nasenlöcher entweichen, was Sonja an das Nilpferd aus einem Kinderbuch von Luzie
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