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Die Totengräberin - Roman

Die Totengräberin - Roman

Titel: Die Totengräberin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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und überall dort, wo sie war.
     
    Sie rief nicht an, sie schickte ihm eine Mail.
    »Liebster Thorben«, schrieb sie, »ich habe von Dir erzählt. Ich musste es tun, weil es wirklich viel viel viel zu spät war, als ich nach Hause kam. Meine Mutter war auf hundertachtzig und wollte mich in ein Heim stecken. Ich habe von Dir erzählt, und es war ein Fehler, denn ich darf Dich nicht mehr sehen. Jedenfalls nicht in den nächsten Wochen. Bis ich Dich vergessen habe, oder bis meine Eltern glauben, dass ich Dich vergessen hab. Aber ich werde Dich nie vergessen. Nie!!!! Ich schreibe diese E-Mail heimlich, und ich werde sie auch gleich wieder löschen, denn meine Mutter kennt das Passwort meines Computers. Aber bitte! Antworte mir! Ich warte! Deine Dich über alles liebende Seele!«
    »Seelchen, ich habe nichts von Dir erzählt, aber bei mir ist es ähnlich. Ich darf auch nicht mehr weg, denn meine Eltern bringt es um den Verstand, dass sie nicht wissen, wo ich war. Aber ich werde es ihnen niemals verraten! Ich sterbe vor Sehnsucht nach Dir! Dein Adler.«
    Sie chatteten wieder.
    »Ich halte es nicht aus ohne Dich! Wie können wir es schaffen, uns zu treffen?«
    »Kannst Du abhauen?«
    »Ja, aber nur nachts. Wenn sie schlafen.«
    »Gut. Dann treffen wir uns morgen um zwei an der Siegessäule. Ist das okay?«
    »Ja. Da kann ich hinlaufen.«

    »Ich kann es nicht mehr erwarten.«
    »Ich auch nicht.«
    »Ich liebe Dich.«
    »Ich Dich noch viel mehr.«
     
    Thorben hatte es sich nicht so schwierig vorgestellt, nachts aus der Wohnung zu schleichen. Noch nie war ihm aufgefallen, dass der Parkettboden knarrte, die Tür zum Flur quietschte und dass es eine Kunst war, ein Schlüsselbund geräuschlos in die Hand zu nehmen und es mehrmals zu drehen, um damit eine Tür aufzuschließen. Häufig hielt er inne und verharrte mucksmäuschenstill, um zu hören, ob seine Eltern wach geworden waren und aus dem Schlafzimmer kamen.
    Aber nichts geschah. Um Viertel nach eins verließ er das Haus und rannte durch die Stadt, hochkonzentriert und jederzeit darauf gefasst, sich in einen Hauseingang zu drücken, wenn eine Polizeistreife vorbeikam.
    Und dann hielten sie sich in den Armen. Eng umschlungen.
    »Ich kann ohne dich nicht leben.«
    »Und ich nicht ohne dich.«
    »Aber sie lassen uns nicht.«
    »Sie werden uns nicht trennen.«
    »Niemals.«
    Sie hielten sich an den Händen, liefen über den Großen Stern, laut jauchzend und die Wagen ignorierend, die entsetzt auswichen, und flohen in das dichte Dunkel des Tiergartens.
    Die Nacht war kühl, und Arabella trug keine Jacke. Thorben rieb ihre nackten Arme warm.
    »Was machen wir?«, fragte Arabella. »Meine Mutter bewacht
mich jetzt unentwegt. Es ist die Hölle. Sie meint, ich wäre zu jung für einen Freund.«
    »Wir können nicht warten, bis wir achtzehn sind.«
    »Nein. Da werden wir verrückt.«
    Thorben gab Arabella seine Jacke. Dann saßen sie schweigend aneinandergekuschelt.
    »Das ist eine ganz beschissene Welt«, sagte Arabella. »Wir gehen nicht mehr nach Hause.«
    »Wo sollen wir hin?«
    »Ich weiß es nicht. Aber ich hab das alles so satt. Ich möchte nur noch bei dir sein. Nichts weiter.«
    »Ich weiß, wo wir immer zusammen sein können.« Thorben hatte einen dicken Kloß im Hals. Er spürte, dass ihn eine Lawine mitreißen würde, wenn er jetzt sagte, was er dachte. Aber er tat es trotzdem.
    »Lass uns davonfliegen. Du als Seele, ich als Adler. Weg aus diesem Leben. Nach dem Tod werden wir immer zusammen sein, bis in alle Ewigkeit, und niemand kann uns trennen. Da gibt es keine Eltern, keine Schule, keine Verbote, nichts mehr.«
    »Wo ist das?«
    »Im Himmel.«
    »Bist du dir sicher?«
    »Ganz sicher.«
    »Woher weißt du das?«
    »Ich weiß es eben. Vertrau mir.«
    »Das kann ich meinen Eltern nicht antun.« Arabella schlug die Hände vors Gesicht.
    »Aber sie trennen uns. Sie wollen nicht, dass wir zusammen sind.«
    »Stimmt. Du hast recht. Versprich mir, dass nicht plötzlich alles vorbei ist.«

    »Ich verspreche es dir.«
    »Ich habe Angst.«
    »Die brauchst du nicht zu haben. Ich bin bei dir.«
    Arabella schwieg und atmete heftig. Sie schnaufte fast. Dann drückte sie die Hände kurz vor den Mund, als wolle sie verhindern, sich zu übergeben, sah Thorben an und lächelte.
    »Ich glaube dir. Lass es uns tun.«
    Sie küssten sich, bis es anfing zu dämmern.
     
    Heinrich Sawatzki war seit dreiundzwanzig Jahren bei den Berliner Verkehrsbetrieben, seit 1990 fuhr er als

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