Die Totengräberin - Roman
jetzt warten, kann es zu spät sein!«
Magda machte eine wegwerfende Handbewegung, die signalisierte, dass es ihr egal war. »Hast du vielleicht meine Turnschuhe gesehen? Ich suche sie schon den ganzen Vormittag! Ich dachte, ich hätte sie im Gästezimmer ausgezogen, aber da sind sie nicht.«
»Tut mir leid, aber ich weiß auch nicht, wo sie sind. Hast du mal im Magazin geguckt? Da, wo die Gummistiefel sind? Mir war so, als hätte ich sie da stehen sehen …«
Magda grinste, »Gute Idee«, und verließ das Zimmer.
Lukas setzte sich in den Sessel am Fenster.
Was war los mit Magda? Sie verdrängte Thorbens Tod. Verdrängte sie vielleicht auch den Tod von Johannes?
Sie war noch schöner als auf dem Bild, und Thorben konnte es gar nicht fassen, dass sie wirklich wahrhaftig vor ihm stand und er sich seine Liebe nicht nur eingebildet hatte.
Hand in Hand gingen sie durch die Stadt. Hinter einer kleinen Reinigung, die als Dekoration eine Landschaftsmalerei im Fenster hatte, war eine Nische, in der ein fast völlig vertrockneter Benjamin stand.
Thorben zog Arabella an sich. Etwas ungelenk und ungeübt schmiegte sie sich sofort an seine Brust. So hielt er sie minutenlang, sein Herz klopfte, sein Kopf dröhnte, und in seinen Ohren rauschte es, als stünde er bei einem Sturm direkt am Strand. Und dann küsste er sie. Ihre Lippen waren warm und weich und schmeckten, als hätte sie Vanillepudding gegessen.
Im Europacenter kauften sie sich ein Eis und setzten sich im Inneren des Gebäudes an einen der Brunnen.
»Morgen gehen wir an einen See«, sagte sie, »die Stadt ist nichts für Adler.«
Thorben bat seine Mutter, Gitarrenunterricht nehmen zu dürfen. Zweimal in der Woche.
»Gitarrenunterricht? Du kannst doch schon ganz gut Gitarre spielen! Warum nimmst du nicht Klavierunterricht?«
»Ich komponiere Songs auf dem Klavier. Das klappt ganz gut. Aber die Melodien, die ich finde, sind zu kompliziert.
Ich krieg den Song dann auf der Gitarre nicht hin. Und das nervt mich.«
»Gut. Meinetwegen. Nimm Unterricht. Aber kriegst du das denn zeitlich hin?«
»Locker.«
Magda wusste, dass das eine Übertreibung war. Sie hatte einen Brief von der Schule bekommen, in der man ihr nahelegte, dass Thorben im kommenden Jahr nach der zehnten Klasse die Schule verließ. Sitzen bleiben werde er ohnehin, aber die Fachlehrer hätten wenig Hoffnung, dass er das Abitur schaffen könnte. Es wäre eine Quälerei. Er habe nicht das geringste Interesse an der Schule. Falls sie einverstanden sei, würde man in der zehnten Klasse beide Augen zudrücken, damit er wenigstens die mittlere Reife bekäme.
Sie hatte Johannes noch nicht mit diesem Brief konfrontiert, wollte es in Ruhe am Wochenende tun, jetzt war ihr Thorben mit seiner Bitte zuvorgekommen. Und obwohl sie es falsch fand, hatte sie eingewilligt, wollte nicht wieder die Einzige sein, die ihm jede Freude nahm.
Aber Thorben ging nicht zum Gitarrenunterricht. Er nahm seine Gitarre und das Geld, das Magda ihm gab, und traf sich mit Arabella.
Zwei Wochen lang fiel kein einziger Tropfen Regen, der Juni war ungewöhnlich heiß. Die Berliner verzehrten eine Rekordmenge an Speiseeis, die Freibäder waren überfüllt, und in den flachen Brunnenbecken planschten die Kleinkinder.
Am Sacrower See hatten sie ihre kleine Bucht für sich allein. Nur wenige Quadratmeter Sand, versteckt zwischen hängenden Weiden und dichten Büschen. Dorthin
zogen sie sich jeden Tag zurück, lagen sich in den Armen und deuteten die Formen der vorüberziehenden Wolken.
Während Arabellas Kopf auf Thorbens Brust ruhte, hörte sie seinen Herzschlag und die beruhigende Resonanz seiner Stimme, wenn er ihr zur Gitarre Songs vorsang. Genau wie er träumte sie sich in eine andere Welt, und genau wie er spürte sie, dass sie anders waren. Etwas Besonderes, das einfach nicht in dieses Leben passte.
Und er sang Arabellas Lieblingssong von Yvonne Catterfeld:
»… FÜR DICH SCHIEBE ICH DIE WOLKEN WEITER,
SONST SIEHST DU DEN STERNENHIMMEL NICHT.
FÜR DICH DREH ICH SO LANGE AN DER ERDE,
BIS DU WIEDER BEI MIR BIST.
FÜR DICH MACH ICH JEDEN TAG UNENDLICH.
FÜR DICH BIN ICH NOCH HELLER ALS DAS LICHT.
FÜR DICH WEIN UND SCHREI UND LACH UND LEB ICH.
UND DAS ALLES NUR FÜR DICH!«
»So geht es mir auch«, sagte sie leise. »So geht es mir, seit ich dich kenne.«
Thorben sang, und die Sonne ging allmählich unter. Er wusste, dass es schon viel zu spät war. Er durfte bis neun wegbleiben, und bis neun würde er es niemals
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