Die Totengräberin - Roman
S-Bahn-Lokführer. Am häufigsten wurde er auf der Strecke von Oranienburg nach Wannsee eingesetzt. Seine Lieblingsstrecke.
Es war die Kurve vor einem kleinen Fichtenwäldchen, das er ganz besonders liebte. Aber er hatte keinen Einblick, was hinter der Kurve auf ihn zukam. Und was er dann sah, war genau der Albtraum, den er dreiundzwanzig Jahre vor Augen gehabt hatte. Aber er hatte sich immer damit beruhigt, dass dies anderen passierte, nicht ihm.
Und da standen sie. Ein Paar. Jung, sehr jung. So viel konnte er erkennen. Sie hielten sich an den Händen. Das Mädchen stand breitbeinig über dem rechten, der Junge über dem linken Gleis. Sie kehrten dem Zug den Rücken. Sie mussten ihn hören, aber sie bewegten sich nicht, sahen sich nicht um. Machten keinen Ansatz zur Flucht.
Heinrich Sawatzki spürte, wie ihm das Adrenalin durch den Körper schoss. Er bremste wie ein Wahnsinniger, als könnte er alle Berechnungen über die Länge der Bremswege aushebeln und ad absurdum führen. Es war unmöglich,
das wusste er ganz genau, und dennoch hatte er einen winzigen Funken Hoffnung.
Aber er schaffte es nicht. Die S-Bahn raste in die beiden jungen Menschen, und der Aufprall knallte in Heinrichs Ohren, ein widerliches Geräusch, das er nie mehr in seinem Leben vergessen würde.
Heinrich Sawatzki wusste hinterher nicht, ob er in diesem Moment geschrien hatte oder nicht. Aber ein grausames Bild hatte sich in sein Hirn gepflanzt, das er von nun an mit sich herumtragen würde.
Thorben und Arabella waren sofort tot.
Man verweigerte Magda und Johannes, ihren Sohn noch einmal zu sehen, da man befürchtete, der Schock wäre zu groß.
Vielleicht war das ein Fehler.
Als Magda von dem Selbstmord ihres Sohnes erfuhr, wollte sie es nicht wahrhaben. Sie bezichtigte den Polizisten, der ihr die Nachricht brachte, der Lüge, schrie ihn an und beschimpfte ihn. Dann durchsuchte sie Thorbens Zimmer nach einer Notiz, einem Abschiedsbrief, einem winzigen Hinweis, damit sie das, was geschehen war oder geschehen sein sollte, glauben konnte.
Aber sie fand nichts. Nicht die kleinste Notiz. Und auch in seinem Computer gab es keine E-Mail, keine Nachricht, keinen Brief und keine Datei, die auf das drohende Unheil hätte hindeuten oder das, was geschehen war, erklären können.
Als der Sarg auf dem Friedhof in der Erde versenkt wurde, brach Johannes am Grab schluchzend zusammen. Magda dagegen weinte keine Träne. Ihre ausgetrockneten Augen brannten, als hätte sie Pfeffer hineingerieben,
und wenn sie sie schloss, glaubte sie in ihrem Kopf ein Geräusch zu hören, wie Sandpapier auf ungehobeltem Holz.
56
Am nächsten Vormittag war der Zeitpunkt günstig. Er fuhr wie immer dienstags zum Bäcker, zur Post und zum Markt und anschließend nach Montevarchi zur Bank. Es war elf Uhr dreißig. Die Bank hatte nur vormittags auf. Wenn das Geld jetzt nicht da war, hatte er keine Gelegenheit mehr, es pünktlich zu beschaffen. Morgen wollte Topo wiederkommen. Lukas hatte keine Ahnung wann, aber er traute ihm zu, dass er bereits morgens um zehn auf der Matte stand.
Lukas’ Mund war ganz ausgetrocknet, als er am Schalter stand und wartete. Er musste sich unbedingt in der nächsten Bar eine große Flasche Wasser kaufen. Um seine Nervosität zu überbrücken, fixierte er die digitale Uhr an der Wand. Noch nie hatte er sich bewusst gemacht, wie lang eine Minute war, wenn man auf die Zahlen starrte und darauf wartete, dass wieder eine Ziffer umsprang.
Um elf Uhr zweiundfünfzig war er endlich an der Reihe und verlangte einen Kontoauszug. Bereits als das Blatt Papier mit unerträglich lautem Schnarren aus dem überalterten Drucker rutschte, sah er, dass keine Summe von 12 500 Euro aufgeführt war. Nur die fünfzig Euro, die er zur Kontoeröffnung eingezahlt hatte, standen auf dem Auszug.
»Bitte«, versuchte er langsam auf Englisch, da er nicht
davon ausging, dass der Schalterbeamte ihn verstehen würde. »Ich warte auf eine Summe von zweimal zwölftausendfünfhundert Euro. Zwei Euro-Blitzüberweisungen. Sie müssten eigentlich schon da sein. Können Sie vielleicht mal nachsehen?«
Der Bankbeamte zog genervt die Augenbrauen hoch und hackte auf seinem Computer herum. Es dauerte vier Minuten. Dann sagte er auf Italienisch: »Ja, einmal zwölftausendfünfhundert Euro sind eingegangen, dem Konto aber noch nicht gutgeschrieben.«
Lukas verstand, was der Mann sagte. »Warum nur die eine Summe?«
Der Schalterbeamte zog die Augenbrauen hoch. »Keine
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