Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Totengräberin - Roman

Die Totengräberin - Roman

Titel: Die Totengräberin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
Vom Netzwerk:
nach Hause schaffen. Aber er sang weiter, und Arabella summte leise.
    »UND WENN ICH DICH SO VERMISSE,
BEWAHRE ICH DIE TRÄNEN AUF FÜR DICH,
DU MACHST EIN LACHEN DRAUS FÜR MICH.

ICH HÖR DICH GANZ OHNE WORTE,
ICH FÜHLE, WO DU BIST,
AUCH WENN ES NOCH SO DUNKEL IST.
FÜR DICH SCHIEBE ICH DIE WOLKEN WEITER,
SONST SIEHST DU DEN STERNENHIMMEL NICHT.
FÜR DICH WEIN UND SCHREI UND LACH UND LEB ICH.
NUR FÜR DICH.«
    Plötzlich erhob sich Arabella und strich sich die Haare aus der Stirn. »Wir gehen noch nicht nach Hause«, murmelte sie. »Es ist so schön. Ich will auch im Dunkeln hier sein.«
    Thorben spielte ein paar Akkorde, und die Musik schien übers Wasser zu ziehen.
    »Okay«, sagte er. »Bleiben wir hier.«
    Seine Eltern, sein Zuhause, die Stadt, die Schule, die ganze Welt mit ihren Absprachen, Regeln und Versprechen waren ihm egal. Es existierten nur noch Arabella und dieses winzige sandige Fleckchen am See.
    Darum rief er auch nicht zu Hause an, sondern schloss die Augen, als sie sich über ihn beugte und ihn küsste. Und als sie sich beide auszogen, glaubte er für sie die Wolken weiterzuschieben, und es war das Aufregendste, was er bisher je gespürt hatte.
     
    Johannes kam um halb zehn. »Was gibt’s zum Abendbrot?«, fragte er noch in der Tür. »Ich hab den ganzen Tag nichts gegessen und einen Hunger, das kannst du dir nicht vorstellen!«
    »Thorben ist nicht nach Hause gekommen«, sagte Magda tonlos.
    »Wie? Nicht nach Hause gekommen?«

    »Mein Gott, was ist daran so schwer zu verstehen? Er wollte spätestens um neun Uhr wieder hier sein, und jetzt ist es halb zehn!« Ihre Stimme klang hoch und schrill.
    »Beruhige dich! Eine halbe Stunde kann schon mal vorkommen. Jetzt essen wir erst mal was, und dann sehen wir weiter.«
    Das ist alles, was ihn interessiert, dachte Magda wütend. Dass er sein Essen kriegt. Sein Sohn ist ihm schnurzegal. Sie riss die Kühlschranktür auf und knallte ihm Wurst, Käse, Butter und einen Rest Salat in einer kleinen Schüssel auf den Tisch.
    »Guten Appetit!«
    Johannes holte sich das Brot aus dem Brotkorb, setzte sich und schnitt sich eine Scheibe ab.
    »Kann es sein, dass du ein bisschen hysterisch bist?«
    Magda antwortete nicht, aber in ihren Augen schwammen Tränen.
    »Er ist noch nie zu spät gekommen«, flüsterte sie.
    »Mit wem ist er unterwegs?«
    »Mit niemandem. Er ist beim Gitarrenunterricht.«
    »Wo?«
    Magda las ihm eine Adresse vor, die ihr Thorben gesagt und die sie sich notiert hatte.
    »Hast du auch eine Telefonnummer?«
    Magda nickte.
    »Dann ruf an. Bis wann geht der Unterricht?«
    »Bis neunzehn Uhr. Dann ist er immer noch ein bisschen rumgebummelt und war dann um neun zu Hause.«
    »Ruf an.«
    Magda ging ins Wohnzimmer und wählte die Nummer.
    Als sie nach wenigen Minuten zurück in die Küche kam,
wusste sie nicht, ob sie vor Wut explodieren oder aus Verzweiflung heulen sollte.
    »Unter diesem Namen, dieser Adresse und dieser Telefonnummer existiert kein Gitarrenlehrer. Thorben hat offensichtlich irgendetwas aus dem Telefonbuch abgeschrieben.«
    Johannes schwieg. Magda sah, dass auch er sich jetzt Sorgen machte.
    »Wo ist der Bengel bloß?«, murmelte er und schlug mit der rechten Faust in seine linke Hand. »Nur eines muss ihm klar sein. Ich habe’ne Menge Verständnis für jeden Mist - aber verarschen lass ich mich nicht.«
     
    Es war für beide das erste Mal. Thorben hatte sich in seinen Fantasien alles Mögliche vorgestellt, aber nie im Leben ein so intensives, so unvergleichliches Gefühl. Er war erwachsen. Sein Leben begann. Und es war eine unfassbare Vorstellung, dass er dies jetzt wiederholen konnte, immer und immer wieder. Dass diese Lust zu seinem Leben dazugehören würde.
    Er hatte keinen Traum und keinen Wunsch mehr. In Arabellas Armen schlief er schließlich ein. Restlos glücklich.
     
    Um halb drei stand er plötzlich in der Tür. Er begriff, dass dies die Realität war: eine weinende Mutter und ein leichenblasser Vater, die völlig entnervt und entkräftet Erklärungen verlangten. »Wo warst du?« - »Was hast du gemacht?« - »Mit wem bist du zusammen gewesen?« - »Warum hast du uns belogen?« - »Warum hast du nicht angerufen?« - »Weißt du, was wir uns für Sorgen gemacht haben?« - »Wir haben die Polizei alarmiert!« - »Wie kannst du uns so etwas antun?« - »Rede!«

    Aber Thorben redete nicht. Er ging schweigend in sein Zimmer, legte sich aufs Bett und träumte von einem Adler, der über Arabellas Kopf schwebte. Immer

Weitere Kostenlose Bücher