Die Totengräberin - Roman
er sich meldete, war sein Ton ungehalten. Der Anrufer sollte wissen, dass er um diese Zeit störte.
Es war Gabriella, vollkommen aufgelöst, in heller Panik. So kannte er sie gar nicht.
»Oma ist weg!«, brüllte Gabriella ins Telefon. »Seit drei Stunden schon. Bevor ich dich verrückt machen wollte, habe ich sie überall gesucht und überall gefragt. Niemand hat sie gesehen. Wahrscheinlich irrt sie durch den Wald und findet nicht mehr nach Hause. Oh mein Gott, Neri, was sollen wir bloß machen? Sie kann doch nicht da draußen übernachten?«
»Nein, natürlich nicht. Nun mal ganz ruhig, Gabriella.
Kein Grund zur Aufregung!« Wenn Gabriella die Fassung verlor, gefiel er sich immer sehr in der Rolle des Ruhigen, Ausgeglichenen, der einen kühlen Kopf bewahrte.
»Kein Grund zur Aufregung?«, kreischte Gabriella. »Du machst mir vielleicht Spaß! Meine Mutter ist krank, Donato, sie weiß nicht mehr, wer sie ist, wie sie heißt und wo sie wohnt. Wenn sie drei Häuser weiter zum Bäcker geht, findet sie nicht mehr zurück. Und jetzt sitzt sie da draußen mutterseelenallein in der Wildnis, hat wahrscheinlich schreckliche Angst, um sie herum grunzen die Wildschweine und röhren die Hirsche, sie hat nichts zu essen und nichts zu trinken, sie ist barfuß und hat nur ein paar Latschen an den Füßen. Vielleicht stirbt sie heute Nacht da draußen, und da soll ich mich nicht aufregen?«
Vor einer Woche war Gabriella überraschend aus Rom zurückgekehrt. Mit ihrer Mutter auf dem Beifahrersitz und einem bis unters Dach vollgepackten Auto.
»Du weißt, wie gerne ich in Rom bin«, erklärte Gabriella ihrem fassungslosen Mann, der stumm Omas Koffer, Taschen, Kisten und Tüten aus dem Auto räumte und erst einmal auf dem Gehweg stapelte, »wenn es nur nach mir gegangen wäre, wäre ich noch Wochen, ach was, Monate geblieben …«
Wie schmeichelhaft, dachte Neri, die Sehnsucht nach mir scheint sie ja regelrecht um den Verstand gebracht zu haben.
»Aber es ging nicht«, fuhr Gabriella fort. »Oma weiß nicht mehr, was sie tut, und ist eine Gefahr für sich und andere. Ich musste den ganzen Tag im Haus sitzen und auf sie aufpassen. Und das kann ich hier besser als in Rom. Darum habe ich beschlossen, sie einfach mitzubringen.«
In diesem Moment hätte Neri am liebsten alles kaputt
geschlagen, so wütend war er. Denn das war das Letzte. Das Allerletzte! Gabriella hatte ihn einfach vor vollendete Tatsachen gestellt. Sein Leben würde von nun an einfach nur noch unerträglich sein. Jeden Morgen würde ihm davor grausen, ins Büro zu gehen, und am Abend heimzukehren, wenn seine Schwiegermutter beim Abendessen schmatzen und danach in seinem Sessel vor dem Fernseher sitzen und von vergangenen Zeiten reden würde. Denn das tat sie unentwegt. Ihr Langzeitgedächtnis funktionierte fabelhaft, nur ihr Kurzzeitgedächtnis war ausgelöscht. Darum hatte er auch nichts gemerkt, als er ab und zu mit ihr telefonierte.
Oma stieg aus dem Auto aus, grinste breit, tätschelte ihm die Wange und sagte: »Junge, Junge, Junge, du bist ja richtig dünn geworden. Kriegst du zu Hause nichts zu essen?«
Beim Abendessen schlang sie dann solche Mengen in sich hinein, als befände sie sich auf einem amerikanischen Fresswettbewerb mit einer Fünfzigtausend-Dollar-Siegprämie, und Neri verzichtete Oma zuliebe auf die Hälfte seiner Pasta- und auf seine gesamte Fleischportion.
Gabriella lächelte und sah ihn mit einem Blick an, der sagte, lass mal, das wird schon werden, morgen koche ich eben ein bisschen mehr.
Aber nichts würde werden. So viel war Neri klar.
Und jetzt war Oma also verschwunden. Irgendwohin losmarschiert. Wahrscheinlich saß sie auf einem Baumstumpf, wartete auf Rettung und wurde immer wütender, weil keine kam.
»Wieso hast du sie überhaupt gehen lassen? Ich meine, wo warst du denn? Und wie ist sie aus der Wohnung herausgekommen?« Neri ahnte, dass es keinen besseren Weg gab, um Gabriella fuchsteufelswild zu machen, aber jetzt
waren diese Fragen heraus, und er wusste selbst nicht, warum er sie nicht einfach hinuntergeschluckt hatte.
»Herrgott noch mal, Neri, hältst du mich allen Ernstes für so bescheuert? Was soll ich denn machen? Ich muss ja wenigstens mal kurz zum Alimentari, wenn wir nicht alle verhungern wollen. Natürlich hatte ich abgeschlossen, aber sie muss die Schublade im Flur durchwühlt und den Schlüssel gefunden haben. Es ist ein echtes Problem, Herr Kommissar«, meinte sie sarkastisch, »wir können sie ja schließlich
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