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Die Totengräberin - Roman

Die Totengräberin - Roman

Titel: Die Totengräberin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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unerfülltes Sehnsuchtsprogramm. Jetzt sind alle meine Wünsche in Erfüllung gegangen, ich bin glücklich, mit ihr zusammen zu sein, aber mein Leben ist die Hölle. So hab ich mir das nicht vorgestellt. Ich bin wie tot. Habe ein anderes Leben als mein Bruder, andere Freunde, andere Gewohnheiten, einen anderen Beruf … aber das muss ich jetzt alles aufgeben. Muss mich verhalten wie mein Bruder, obwohl ich für niemanden, der Johannes oder mich kannte, mein Bruder bin. Dieser Irrsinn funktioniert nur den Leuten gegenüber, die uns nicht kannten. Können Sie sich das vorstellen?«
    »Ich kann mir gut vorstellen, wie traumatisch es für Sie sein muss, in die Haut, in den Alltag, in das Leben eines anderen Menschen schlüpfen zu müssen.«
    Lukas nickte. Ihm war plötzlich zum Heulen zumute. Hier in Deutschland, aus der Entfernung, erschien ihm seine Situation noch unwirklicher als in Italien.

    »Was kann man denn tun?«
    »Das Problem ist - einmal unabhängig von Ihren Schwierigkeiten -, dass sich bei einer Persönlichkeitsstruktur wie der Ihrer Schwägerin und nach einer derart massiven Verdrängung wahrscheinlich im Lauf der Zeit psychische Störungen wie Neurosen oder Psychosen entwickeln werden. Daher muss man versuchen, die verdrängten Inhalte wieder bewusst zu machen. Frau Tillmann muss allmählich lernen, wieder Verbindungen zu Personen, Verhaltensweisen und zum realen Alltag in der Gegenwart herzustellen.«
    »Wie?«
    »Durch eine Psychoanalyse.«
    »Ja, klar, aber das ist in diesem Fall schwierig. Bin ich allein denn wirklich machtlos?«
    »Vollkommen.« Mechthild Nienburg lächelte und öffnete das Fenster einen Spaltbreit. »Ihre Schwägerin hat sich eine eigene Welt erschaffen. Eine neue Vergangenheit ohne Schuld und ohne negative Erinnerungen, eine angenehme Gegenwart und eine hoffnungsvolle Zukunft, da sie keine Altlasten mit sich herumträgt, die ihr Angst machen könnten. Sie hat einen festen Kokon um sich herum gesponnen und fühlt sich wohl. Jeden, der jetzt versucht, diese Sicherheit zu durchbrechen, indem er den Kokon zerreißt und ihr langsam die Augen öffnet für die Realität, wird sie hassen. Sie wird sich wehren, will sich das nicht gefallen lassen. Und am Schluss wird sie zusammenbrechen.«
    Mechthild setzte sich Lukas gegenüber und sah ihn ernst an. »Das können Sie nicht leisten. Die Verantwortung ist zu groß, dass etwas schiefgeht. Außerdem ist es besser, sie hasst mich als Sie.«
    »Da haben Sie recht. Aber sie wird nicht nach Deutschland kommen. Da bin ich mir absolut sicher. Jedenfalls
nicht in den nächsten Monaten. Vielleicht im Winter, für ein, zwei Wochen, aber das hat ja alles keinen Zweck.«
    Frau Dr. Nienburg sagte nichts dazu. Sie betrachtete ihren Siegelring und schwieg.
    In diesem Moment klingelte Lukas’ Handy. Das heißt, es klingelte nicht, sondern spielte die Titelmelodie aus »Der Pate«. Frau Dr. Nienburg musste lachen.
    »Das ist toll«, sagte sie. »Wirklich originell. Gefällt mir.«
    Lukas ließ die Melodie laufen und sah auf das Display. »Es ist Magda. Aber ich geh jetzt nicht ran.«
    Sie hörten die Musik lange, Magda war hartnäckig. Aber schließlich gab sie auf, und die Melodie verstummte. Lukas schaltete sein Handy aus.
    »Wahrscheinlich ruft sie in zehn Minuten wieder an, aber ich will jetzt nicht noch einmal gestört werden.« Er schob das Handy in seine Jacketttasche und sah die Therapeutin abwartend an.
    »Ich stelle Ihnen jetzt mal die Gretchenfrage«, sagte sie. »Versuchen Sie, mir diese Frage ganz ehrlich zu beantworten: Was machen Sie, wenn Sie die Hauptrolle in einer Fernsehserie bekommen? Pro Jahr sechzig Drehtage, Ihr künstlerischer und finanzieller Durchbruch und eine Sicherheit über Jahre.« Sie lächelte, und ihre Grübchen erschienen ihm tiefer denn je. »Schlagen Sie dieses Angebot aus und bleiben Sie bei ihr? Oder verlassen Sie sie und bauen an Ihrer Karriere?«
    »Das ist eine verflucht schwierige Frage.«
    »Ich weiß.«
    »Und eine gemeine Frage.«
    »Ist mir klar.« Sie fixierte ihn mit ihrem Blick.
    Lukas wusste nicht, was er antworten sollte. »Ich glaube, ich würde sie verlassen«, flüsterte er, »denn sie liebt ja Johannes
und nicht mich. Ich glaube es, aber ich bin mir nicht sicher.«
    »Okay«, sagte die Therapeutin. »Verlassen Sie sie. Gehen Sie weg, machen Sie Schluss.«
    Lukas sah sie völlig entgeistert an. »Wieso? Das verstehe ich jetzt nicht.«
    »Sie haben mir erzählt, mit großer Wahrscheinlichkeit hat Ihr

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