Die Totengräberin - Roman
Tod wäre. Jetzt einfach schlafen, und alles wäre vorbei. Ein für alle Mal.
In diesem Moment ging im Wohnzimmer das Licht an.
Leonie kam herein. Sie war barfuß und hatte ein Nachthemd an, das über ihrem prallen Leib spannte, ging zum Kühlschrank, nahm Milch heraus und trank sie direkt aus der Tüte. Dabei hielt sie sich den Rücken und streckte ab und zu den Kopf in den Nacken, als habe sie große Schmerzen.
Plötzlich wandte sie sich um und sah in den Garten. Jonathan hatte das Gefühl, sie sähe ihn direkt an, und hielt den Atem an, aber dann - erst nach einigen Sekunden - sagte er sich, dass es unmöglich war. Aus dem hell erleuchteten Wohnzimmer konnte sie niemals erkennen, was sich draußen in der Dunkelheit abspielte.
Er war so mit seinen Gedanken und seiner eigenen Beruhigung beschäftigt, dass er zu spät registrierte, dass Leonie die drei Schritte zum Kamin gegangen war und die Gartenbeleuchtung angeschaltet hatte.
Jonathan machte einen Satz nach hinten. Der Busch bewegte sich, Zweige knackten.
Leonie rief ihre Schwiegermutter und deutete mit ausgestrecktem Arm angstvoll nach draußen. Hella ging vor direkt bis ans Fenster, sah angestrengt nach draußen und schüttelte schließlich den Kopf.
Jonathan vermutete erleichtert, dass sie wahrscheinlich »da ist nichts« zu Leonie gesagt hatte.
Er war jetzt hoch konzentriert und übervorsichtig, immerhin war es möglich, dass eine der beiden in den Garten kam, um genauer nachzuschauen, und so schnell konnte er unbemerkt nicht flüchten. Aber dann vertraute er darauf, dass sie sich beide zu sehr davor fürchteten, das schützende Haus zu verlassen. Wenn Tobias da gewesen wäre - er wäre
bestimmt hinausgegangen, schon um Leonie zu beruhigen, aber Tobias war zum Glück nicht da. Wahrscheinlich machte er seinen Job in Bangkok oder Singapur. Gut so.
Eine halbe Stunde später ging das Licht wieder aus, Hella und Leonie verließen das Wohnzimmer, und dann war alles ruhig. Nichts passierte. Kein Laut. Jonathan fror erbärmlich.
BLEIB! , sagte die Stimme.
Jonathan blieb und musste doch eingeschlafen sein, denn plötzlich schreckte er hoch. Im Wohnzimmer war alles dunkel, aber er hörte, wie die Haustür zugeschlagen und kurz darauf ein Wagen angelassen wurde.
Innerlich fluchend, robbte er zurück, aber als er die Straße erreichte und zu seinem Auto rannte, sah er in der Ferne nur noch die Rücklichter, deren Leuchtkraft immer schwächer wurde, und plötzlich war da nur noch tiefschwarze Nacht.
Er war wütend auf sich selbst. Er tobte innerlich. Leonie war ins Krankenhaus gefahren, und er wusste nicht, in welches. Wenn das Kind auf normalem Weg zur Welt kam, hatte er jetzt zwölf, maximal vierundzwanzig Stunden Zeit herauszukriegen, wo sich Leonie befand. Spätestens dann würde sie mit dem Kind wieder zu Hause sein, und seine Chance war vertan.
Jetzt musste er erst einmal den Vormittag abwarten, und dann brauchte er Geduld und ein bisschen Glück.
Jonathan erwachte um zehn und fluchte innerlich. Das Frühstück in dieser lausigen Pension war gerade vorbei, aber er
hatte den Schlaf gebraucht. Für das, was er vorhatte, benötigte er seine ganze Konzentration.
Um sieben war er schon einmal aufgewacht. Völlig zerschlagen und mit zentnerschwerem Kopf, als habe er die Nacht durchgesoffen. Er schleppte sich zur Toilette und spürte, dass er beim Schlucken Schmerzen hatte. Verdammt nochmal, es hat mich erwischt, es hat mich also wirklich erwischt.
So schnell wie möglich verkroch er sich wieder im Bett und hoffte beim Einschlafen, dass ein Wunder geschehen und er die drohende Erkältung wegschlafen könnte, aber als er aufwachte, hatte er nicht nur Hals-, sondern auch Kopf-und Ohrenschmerzen.
Er ging schnell ins Bad und duschte sehr heiß und sehr lange. Danach fühlte er sich wesentlich besser, kochte sich einen Tee und war schließlich davon überzeugt, die Kraft zu haben, die Erkältung wegzudrücken. Schließlich musste er nun keine Nächte mehr in der Kälte verbringen.
Um elf rief er bei Engelberts Witwe, Ingrid Kerner, an. Er hatte erwartet, eine gedämpfte und immer noch von Trauer erfüllte Stimme zu hören, aber sie war erschreckend laut und aufgekratzt.
»Nein!«, rief sie. »Sie? Wie geht es Ihnen?«
»Gut. Danke. Aber eigentlich wollte ich mich erkundigen, wie es Ihnen geht?«
Sie wurde ruhiger, als fiele ihr erst in diesem Moment ihr Schicksal wieder ein. »Besser. Danke. Ich gewöhne mich allmählich an den Zustand, allein zu leben.
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