Die Totengräberin - Roman
Es ist schwer, aber es geht. Und Sie? Von wo rufen Sie an?«
»Aus Italien! Wie immer. Ich habe mich nur gerade daran erinnert, bei der Trauerfeier gehört zu haben, dass das Kind
von Leonie und Tobias im Januar geboren wird. Wie sieht es denn aus?«
Ingrid kiekste, und dann überschlug sich ihre Stimme fast. »Na so was! Sie scheinen den siebten Sinn zu haben, oder es war Gedankenübertragung. Ja, wirklich, heute Morgen hat Leonie ein kleines Mädchen geboren! Lisa-Marie soll sie heißen. Ich habe den Anruf auch erst vor zwei Stunden von Hella bekommen. Leider habe ich heute noch einen Zahnarzttermin - aber ich denke, morgen früh fahre ich nach Buchholz.«
»Das ist ja wunderbar. Nein, das freut mich wirklich!«
»Soviel ich weiß, ist Tobias gerade in New York, aber vielleicht schafft er es ja, seine Frau und seine Tochter ein paar Tage zu besuchen.«
»Ich würde es ihm wünschen. Sagen Sie, Frau Kerner, wissen Sie zufällig, in welchem Krankenhaus Leonie liegt? Ich würde ihr gerne ein paar Blumen schicken.«
»Aber natürlich. Moment.« Ingrid legte den Hörer zur Seite und suchte nach ihrem Notizbuch. Dann gab sie Jonathan Adresse und Telefonnummer des Krankenhauses, außerdem Station und Zimmernummer von Leonie und legte auf. Sie war überrascht und gerührt, was der Vermieter aus Italien für einen regen Anteil am Schicksal ihrer Familie und ihrer Freunde nahm.
Und Jonathan war äußerst zufrieden mit sich. Jetzt musste er noch ein paar Einkäufe tätigen, dann hatte er so ziemlich alles, was er brauchte.
Leonie war jetzt seit fast zweiunddreißig Stunden ununterbrochen wach. Sie war den ganzen Tag über von dem kleinen
Wesen in ihrem Arm so fasziniert gewesen, dass sie die Müdigkeit gar nicht gespürt hatte, aber jetzt merkte sie, dass ihre Kräfte rapide nachließen, sie musste dringend schlafen. Die Milch schoss in ihre Brüste, sie hatte Lisa-Marie schon einmal gestillt und war ganz glücklich. Alles war gut. Um neun hatte Tobias aus New York angerufen. Er hatte so mit den Tränen gekämpft, dass er kaum sprechen konnte.
»Ich komme«, hatte er immer wieder gestottert, »ich komme, so schnell ich kann. Pass gut auf unseren kleinen Schatz auf. Ich bin stolz auf dich, Leonie, du bist die tollste Frau der Welt, und ich liebe dich.«
Dann war er weg. Ob er aufgelegt hatte oder das Gespräch unterbrochen worden war, wusste sie nicht, es war ja auch egal. Alles war in Ordnung. Sie liebte ihre kleine Tochter, die eine Stupsnase und einen weichen blonden Flaum auf dem Kopf hatte, jetzt schon über alles. Ich geb dich nie wieder her, dachte sie. Nie wieder. Du bist das größte Wunder und das größte Glück meines Lebens.
Dann klingelte sie nach der Schwester. »Tillie«, sagte sie matt, »ich bin so müde, ich muss unbedingt eine Weile schlafen. Können Sie die Kleine mit ins Wachzimmer nehmen?«
»Aber natürlich!« Tillie nahm Lisa-Marie aus ihrem Bettchen. »Wir passen auf sie auf und werden sie wickeln, wenn es nötig ist. Sollen wir Sie wecken, wenn sie gestillt werden muss?«
»Ja, bitte.« Leonie lächelte dankbar, drehte sich auf die Seite und schlief augenblicklich ein.
Jonathan ging ins Bad, betrachtete ein paar Sekunden sein Gesicht im Spiegel eines altmodischen Allibert und begann, sich sorgfältig zurechtzumachen.
Es war jetzt zwanzig vor elf. Zeit der Visite und daher viel zu gefährlich. Er wollte noch zwei Stunden warten, denn es erschien ihm günstiger, wenn auf den Stationen das Mittagessen gerade vorbei war und das Geschirr abgeräumt wurde.
In den letzten zwei Wochen hatte er sich einen Bart wachsen lassen, den er jetzt sorgfältig schnitt, so dass er gepflegt wirkte. Der schlohweiße Bart störte ihn maßlos, er kam sich verwahrlost und unsauber vor, geradezu verwildert. Aber es handelte sich ja nur noch um wenige Stunden. Wenn alles erledigt war, würde er ihn abrasieren.
Die Perücke hatte er schon vor Wochen in Florenz gekauft. Sie war aus Echthaar, handgeknüpft, und hatte über fünfhundert Euro gekostet. Das war es ihm wert. Graue, drei bis vier Zentimeter lange Haare, die sehr natürlich wirkten und gut zu seinem schmalen Gesicht passten. Er streifte sie über seine eigenen millimeterkurzen Haare, und damit die Perücke nicht verrutschte, fixierte er sie an den Schläfen und oberhalb der Stirn am Haaransatz mit Mastix. Ein Spezialklebstoff, der im Theater in der Maske verwendet wurde. Hinterher würde er die Perücke so bald wie möglich verbrennen.
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