Die Totengräberin - Roman
Vielleicht würde es ihm mit dieser Rolle gelingen, auf sich aufmerksam zu machen, um seinem Ziel vielleicht ein kleines Stück näher zu kommen: Berlin.
»Natürlich kommen wir zu deiner Premiere nach Braunschweig«, sagte Magda. »Das ist doch gar kein Problem. Johannes reist so viel in der Gegend herum, da wird er sich ja wohl mal die Premiere seines Bruders angucken können.«
»Versprichst du’s mir?«, fragte Lukas.
»Ja, ich verspreche es dir. Und wenn Johannes wirklich keine Zeit hat, dann komme ich eben allein.«
Magda hielt Wort. Sie kam zur Premiere nach Braunschweig, und sie kam allein. Lukas, dem die Proben Spaß gemacht hatten, stellte jetzt, wo sie zusah, alles infrage.
Er wusste, dass sie in der Vorstellung war, aber er wusste nicht, wo sie saß.
Als er vor seinem Auftritt in der Gasse stand, wurde ihm kalt. Er fing an zu zittern und spürte, dass gleichzeitig sein Mund austrocknete. Seine Kehle wurde rissig und spröde, ihm würde die Stimme versagen. Er versuchte einzuspeicheln, aber es gelang ihm nicht. Gleichzeitig wuchs die Angst. Die Bühne erschien ihm wie ein Pranger, eine Hinrichtungsstätte, ein Ort der Blamage.
Er hatte sich nicht mehr unter Kontrolle. Weder seinen Körper noch seine Gedanken. Sein Gedächtnis war wie leer gefegt, er hatte vergessen, was er in wenigen Sekunden auf dieser Bühne zu tun und zu sagen hatte, er war ein Versager, der Anspannung nicht gewachsen.
Das Stichwort kam. Lukas hörte es wie durch Watte aus weiter Ferne und konnte es gar nicht glauben. Dennoch betrat er die Bühne in der festen Überzeugung, zum falschen Zeitpunkt aufgetreten zu sein.
Die Scheinwerfer blendeten ihn. So hell hatte er das Bühnenlicht nicht in Erinnerung. Es war warm auf der Bühne, beinah stickig. Die Körperwärme von achthundert Menschen hatte den Raum erhitzt. Er fror nicht mehr, er schwitzte und versuchte, sich zu orientieren, versuchte, seinen lang erprobten Weg zu finden unter der Beobachtung des Publikums, unter Magdas Blicken.
Die Luft war wie ein dicker Brei. Roch muffig, dumpf und nach verbrauchtem Atem. Er spürte die Spannung, die das Publikum ihm entgegenbrachte. Und plötzlich war er
glücklich. Er fühlte sich mächtig und frei, alle Augen waren auf ihn gerichtet, was für ein unaussprechliches Gefühl! Alle Angst war verflogen, er sah nur noch seine Partnerin, die ihm gegenüberstand und ihn mit großen Augen ansah.
Und er ließ sich fallen. Vergaß, dass er auf einer Bühne stand, vergaß das Publikum, vergaß Magda. Was er sprach, dachte und meinte er in diesem Moment. Er war der liebende Mann, den das Stück vorschrieb, und hatte sich noch nie so authentisch gefühlt.
»Du bist gekommen«, sagte er, »du bist wahrhaftig zurückgekehrt.« Er fiel vor seiner Partnerin auf die Knie. »Ich war ein Stück Holz, das in den Weiten des Ozeans auf den Wellen treibt, jetzt spüre ich, wie das Blut in meinen Adern wieder zu kreisen beginnt. Ich bin neu geboren, ich lebe und atme, ich liebe. Ohne dich war ich ein unbeschriebenes Blatt Papier, eine Wolke im Wind, eine Träne, die zu Boden fällt.«
Lukas weinte. Die Tränen liefen ihm über das Gesicht, und beinah ungläubig schmeckte er die salzige Flüssigkeit auf den Lippen.
Am Schluss des Stückes war er vollkommen leer gebrannt. Er glaubte, sich kaum noch auf den Beinen halten zu können, und der Applaus kam ihm vor wie ein dumpfes Rauschen, er hörte ihn als bedrohliches Tosen, so wie ein Taucher das Geräusch eines Schiffsmotors unter Wasser wahrnimmt.
Zwanzig Minuten später war sie bei ihm in der Garderobe und nahm ihn in den Arm. Er war immer noch verschwitzt, erst halb abgeschminkt und hatte einen nackten Oberkörper. Aber es schien ihr nichts auszumachen, denn in der Umarmung standen sie sekundenlang.
»Du warst fantastisch«, flüsterte sie. »Ich hatte die ganze Zeit eine Gänsehaut.«
Er öffnete eine Piccoloflasche, die ihm die Intendanz zusammen mit einem Programmheft auf den Garderobentisch gestellt hatte.
»Darauf müssen wir anstoßen.«
Lukas nahm zwei Gläser vom Fensterbrett und goss den Sekt ein. »Ist leider ein bisschen warm.«
»Das macht nichts.«
Sie prosteten sich gerade zu, als die Tür aufsprang und Reinhard, der Regisseur, hereinkam. Er umarmte Lukas.
»Großartig!«, sagte er und schien vor Stolz zu platzen. »Das wird ein Bombenerfolg. Ich schwör’s dir! Du hast deine Sache fa-bel-haft gemacht, die Liebesszene am Anfang, wenn sie zu dir zurückkehrt, war noch nie so
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