Die Totengräberin - Roman
davon.
15
Als Magda am nächsten Morgen schweißgebadet erwachte, wusste sie nur noch, dass sie einen Albtraum gehabt hatte. Aber sie konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, was ihr Angst gemacht hatte.
Um halb neun trank sie einen Cappuccino und überlegte, wo sie ihren Autoschlüssel hingelegt hatte, als ihr die Spinnweben auffielen, die außen am Küchenfenster klebten und im Luftzug hin und her wehten. Sie sprang auf, holte einen Eimer mit Wasser, Glasreinigungsspray, einen Lederlappen, ein sauberes Küchenhandtuch und fing an, das Fenster zu putzen.
Danach war der Unterschied zu den anderen Küchenfenstern so extrem, dass sie alle putzte. Es war halb elf, als sie fertig war.
Den Autoschlüssel fand sie schließlich im Obstkorb, in dem kein einziger Apfel mehr lag, und um Viertel vor elf fuhr sie los.
Die Verkäuferin in einem Handarbeitsgeschäft erinnerte Magda an die Apothekenhelferin Daniela. Auch sie hatte eine so dicke Brille, als hätte sie sich durch ständiges Sticken, Stricken und Häkeln und das Starren auf winzige Maschen, Laschen und Fäden ihre Augen ein für alle Mal ruiniert. Sie wunderte sich, dass eine Frau jetzt im Juni
dicke Wolle verlangte. Im Sommer wurden meist leichte Sachen gehäkelt, dicke Wolle verkaufte sich vor allem im November.
Magda suchte sich graue Wolle aus, die von dünnen blauen Fäden durchzogen war. Außerdem hatte sie einen Pullover von Johannes dabei und fragte die Verkäuferin, wie viel Wolle dieser Sorte man für eine Jacke dieser Größe brauche.
Die Verkäuferin maß und rechnete und schob dabei immer wieder ihre rutschende Brille zurück bis zur Nasenwurzel.
»Es soll ein Weihnachtsgeschenk für meinen Mann sein«, erklärte Magda, »und jetzt in den Ferien habe ich Zeit zum Stricken. Wenn wir abends auf der Terrasse sitzen, muss ich was zu tun haben.«
»Brava«, sagte die Verkäuferin und schrieb Zahlenkolonnen auf einen Zettel.
»Im Moment ist mein Mann in Rom«, sagte Magda, »aber er kommt übermorgen wieder. Dann ist die Jacke zwar keine Überraschung mehr, wenn ich jetzt schon daran arbeite, aber er kann sie wenigstens gleich anprobieren.«
»Brava«, wiederholte die Verkäuferin und seufzte. »Ich habe nicht genug Wolle da. Ungefähr die Hälfte müsste ich nachbestellen.«
»Das macht doch nichts. Wie lange dauert es?«
»Nächste Woche Freitag müsste der Rest hier sein.«
»Wunderbar. Dann bestellen Sie doch bitte.«
Die halb blinde Verkäuferin kramte nach einem Bestellblock und notierte Magdas Namen, Adresse und Telefonnummer.
»Ich rufe Sie an, wenn die Wolle da ist.«
»Das ist aber nett.« Magda schenkte der Verkäuferin ihr
strahlendstes Lächeln und verließ mit einem Teil der Wolle in einer riesigen, sackähnlichen Plastiktüte den Laden.
Am Nachmittag arbeitete sie noch eine Weile im Gemüsegarten. Das Unkraut zu entfernen war eine langwierige und mühevolle Arbeit, denn das Gras war mittlerweile fast vierzig Zentimeter hoch. Und sie kam nur sehr langsam voran.
Ab und zu hielt sie inne, stützte sich auf die Harke und blickte über das Stück Land, das jetzt ihr gehörte. Die noch immer offen liegende Klärgrube war ein Schandfleck und ärgerte sie jeden Tag. Aber bald kam Lukas, und sie würde ihn bitten, die Seitenwände der Grube mit Erde anzuschütten.
Nach zwei Stunden hatte sie die Nase voll und hörte auf. Sie sprang unter die Dusche, zog sich frische Sachen an und aß ein Knäckebrot mit Pecorino. Dazu trank sie ein Glas kühlen Weißwein und nahm die ersten Maschen für das rechte Vorderteil der Jacke auf.
Den ganzen Abend saß sie auf der Terrasse und strickte. Sie hatte den kleinen Fernseher auf die Fensterbank gestellt und so gedreht, dass sie auch auf der Terrasse gucken konnte. Um halb zwölf hatte sie fünfzehn Zentimeter gestrickt und war sehr zufrieden. Sie legte das Strickzeug weg, ging ins Haus, legte Paolo Conte auf und drehte die Stereoanlage so laut, wie sie es überhaupt aushalten konnte. Bei dem Song »Via con me« begann sie zu weinen.
16
Magda und Katharina standen auf Gleis drei. Die Ansage plärrte scheppernd durch den Lautsprecher, und Magda verstand kein Wort, da direkt gegenüber, auf Gleis eins, eine männliche Putzkolonne mit einer elektrischen Höllenmaschine den Bahnsteig und den Wartesaal fegte und bürstete, beziehungsweise den Dreck gleichmäßig verteilte.
»Das war unsere Ansage«, sagte Katharina, die offensichtlich mehr verstanden hatte. »In zwei Minuten fährt der
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