Die Totenleserin1
ausgehen, dass unser Mann sich seine Opfer in Cambridge sucht und sie dann auf dem Hügel tötet.«
Er blinzelte und starrte seinen Weinbecher an, als sähe er ihn zum ersten Mal. »Was würde meine Bekka wohl zu alldem sagen?« Er trank einen Schluck.
Adelia und Mansur blieben still. Da war noch etwas. Etwas, was draußen herumgeschlichen war, würde jeden Augenblick hereinkommen.
»Nein …« Simon sprach jetzt langsam. »… nein, es gibt noch eine andere Erklärung. Sie gefällt mir zwar nicht, aber sie muss in Erwägung gezogen werden. Unsere Anwesenheit auf dem Hügel war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Auslöser dafür, dass die Leichen von dort weggeschafft wurden. Was, wenn wir nicht von einem Mörder gesichtet wurden, der bereits vor Ort war – ein überaus zufälliges Zusammentreffen –, sondern wenn
wir ihn mitgebracht haben?«
Jetzt stand es im Raum.
Simon sagte: »Während wir uns in jener Nacht um Prior Geoffrey gekümmert haben, was haben da die anderen aus unserer Reisegruppe getrieben? Hä? Meine Freunde, wir müssen die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass unser Mörder einer der Pilger ist, mit denen wir von Canterbury hierhergereist sind.«
Die Nacht vor den Fenstern wurde dunkler.
Kapitel Sechs
V on weichen Betten hielt Gyltha nicht viel. Adelia hatte sich eine Matratze mit Gänsedaunenfüllung gewünscht, wie die, auf der sie in Salerno schlief. Schließlich war der Himmel über Cambridge mit Gänsen übersät.
»Gänsefedern zu waschen ist eine Plackerei«, sagte Gyltha.
»Stroh ist sauberer, kannst du jeden Tag wechseln.«
Zwischen ihnen herrschte eine unerwünschte Spannung. Adelia hatte um mehr Salat zu den Mahlzeiten gebeten, und Gyltha hatte die Bitte als Majestätsbeleidigung empfunden. Jetzt war der Augenblick der Konfrontation gekommen, der darüber entscheiden würde, wer hier in Zukunft das Sagen hatte.
Einerseits war Adelia keineswegs in der Lage, selbst einen so bescheidenen kleinen Haushalt zu führen, weil ihr die notwendigen Fähigkeiten dazu fehlten: Sie verstand nichts von Vorratswirtschaft und hatte außer mit Apothekern noch nie mit irgendwelchen Händlern zu tun gehabt. Sie konnte weder spinnen noch weben, und ihr Wissen über Kräuter und Gewürze war eher medizinischer als kulinarischer Natur. Ihr Geschick als Näherin beschränkte sich darauf, offene Wunden zu verschließen oder sezierte Kadaver wieder zusammenzuflicken.
In Salerno spielte das alles keine Rolle. Der gesegnete Mann, der ihr Ziehvater war, hatte in ihr früh einen Verstand erkannt, der es mit dem seinen aufnehmen konnte, und da sie nun einmal in Salerno waren, hatte er ihr das Studium der Medizin nahegebracht, schließlich waren er und seine Frau beide Ärzte.
Die Führung des Haushaltes in ihrer großen Villa blieb seiner Schwägerin überlassen, einer Frau, die dafür gesorgt hatte, dass alles wie am Schnürchen lief, ohne je ihre Stimme zu erheben. Zu alldem fügte Adelia noch den Umstand hinzu, dass ihr Aufenthalt in England nur vorübergehend war und ihr keine Zeit für Häuslichkeit bleiben würde.
Andererseits war sie nicht gewillt, sich von einer Dienerin herumkommandieren zu lassen. Sie sagte scharf: »Dann sorg dafür, dass es auch wirklich jeden Tag gewechselt wird.«
Ein Kompromiss mit leichten Vorteilen für Gyltha, endgültiger Ausgang noch offen. Und er würde jetzt auch nicht entschieden werden, weil sie Kopfschmerzen hatte.
Letzte Nacht hatte der Aufpasser das Sonnenzimmer mit ihr geteilt – eine weitere verlorene Schlacht. Auf Adelias Einwand, der Hund stinke unerträglich und solle draußen schlafen, hatte Gyltha erwidert: »Befehl des Priors. Der Hund geht dahin, wo du hingehst.« Und so hatte sich das Schnarchen des Tieres mit den fremdartigen Rufen und Schreien vom Fluss vermischt, während ihr Traum durch Simons Andeutung, das Gesicht des Mörders könnte ihnen bekannt sein, schreckliche Formen annahm.
Ehe sie zu Bett gingen, war Simon diesem Gedanken nachgegangen: »Wer hat an dem Lagerfeuer neben der Straße geschlafen, und wer hat es verlassen? Ein Mönch? Ein Ritter? Der Jäger? Der Steuereintreiber? Hat sich einer von ihnen davongestohlen, um diese armen Gebeine zu holen – sie waren leicht, wie ihr wisst, und vielleicht hat er ein Pferd genommen. Der Händler? Einer von den Knappen? Der Spielmann? Ein Diener? Wir müssen sie alle in Betracht ziehen.«
Einer von ihnen war jedenfalls in der Nacht in Gestalt einer Elster durch ihr
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