Die Totenleserin1
Zinnbecher anschließend wieder hinein. »Der Teufel soll sie alle holen mit ihrer verdammten Ahnungslosig-keit.«
Gyltha, die damit beschäftigt war, Teig auszurollen, hob den Kopf. Sie war ein paar Mal zu Hilfe gekommen, wenn Adelia mit dem einheimischen Dialekt Schwierigkeiten hatte. »Aber dem jungen Coker hast du den Fuß gerettet.«
»Er ist Dachdecker«, sagte Adelia. »Wie soll er denn mit nur zwei Zehen an einem Fuß eine Leiter hochklettern?«
»Immer noch besser als gar kein Fuß.«
Gylthas Verhalten hatte sich verändert, aber Adelia war zu niedergeschlagen, um das zu bemerken. Heute Morgen waren einundzwanzig verzweifelte Menschen zu ihr gekommen – oder besser gesagt zu Doktor Mansur –, und bei acht von ihnen kam jede Hilfe zu spät. So hatte sie lediglich drei retten können; na ja, eigentlich vier. Der Husten des Kindes ließ sich vielleicht durch Inhalieren von Kiefernessenz heilen, falls die Lunge nicht schon angegriffen war.
Daran, dass sie gar keine Zulassung hatte, um irgendwen zu behandeln, hatte sie keinen Gedanken verschwendet; die Menschen waren in Not gewesen.
Geistesabwesend mümmelte Adelia einen Keks, den Gyltha ihr in die Hand geschoben hatte. Wenn die Patienten weiter so zahlreich kamen, überlegte sie, würde sie eine eigene Küche brauchen. Für die Herstellung von Tinkturen, Suden, Salben und Pulvern war Platz und Zeit vonnöten.
Normale Apotheker neigten zur Knauserigkeit. Sie vertraute ihnen nicht mehr, seit Sgr. D’Amelia dabei erwischt worden war, dass er seine teuren Pulver mit Kreide vermischte.
Kreide
. Genau da sollten sie und Simon und Mansur jetzt eigentlich sein. Sie sollten den Kreideboden auf dem Wandlebury Ring absuchen, obwohl sie zugeben musste, dass Simon gut daran getan hatte, diesen unheimlichen Ort nicht allein aufzusuchen, und wenn auch nur, weil mehr als bloß eine Person erforderlich war, um in all die seltsamen Gruben zu spähen, von der Möglichkeit, dass der Mörder zurückspähen könnte, ganz zu schweigen, wobei es sehr praktisch wäre, Mansur dabeizuhaben.
»Du hast gesagt, Master Simon wollte zu den Wollhändlern?« Gyltha nickte. »Hat die Streifen mitgenommen, mit denen dieser Teufel die Kindchen gefesselt hat. Wollte fragen, ob die irgendwer verkauft hat und an wen.«
Ja. Adelia hatte zwei von den Streifen für ihn gewaschen und getrocknet. Da der Wandlebury Ring warten musste, nutzte Simon die Zeit eben auf andere Weise, obwohl sie sich wunderte, dass er Gyltha in sein Vorhaben eingeweiht hatte. Nun ja, da die Haushälterin offenbar mit ins Vertrauen gezogen wurde …
»Komm mit nach oben«, sagte Adelia zu ihr und ging voraus.
Dann zögerte sie. »Dieser Keks …«
»Mein Honighafergebäck.«
»Sehr nahrhaft.«
Sie führte Gyltha an den Tisch im Sonnenzimmer, auf dem sie den Inhalt ihrer Ziegenledertasche ausgebreitet hatte. Sie zeigte auf etwas. »Hast du so was schon einmal gesehen?«
»Was ist das?«
»Ich glaube, es ist eine Art Bonbon.«
Das Ding war rautenförmig, steinhart getrocknet und grau. Sie hatte ihr schärfstes Messer benutzt, um einen Span davon abzuschaben, und darunter war ein rosafarbenes Inneres zum Vorschein gekommen. Außerdem hatte sie dabei den Haucheines Duftes gerochen, so schwach wie eine fast verlorene Erinnerung. Sie sagte: »Das klebte in Marys Haar.«
Gyltha presste die Augen zu, bekreuzigte sich und musterte es dann gründlich.
»Gelatine, würde ich sagen«, legte Adelia ihr nahe, »mit Blüten aromatisiert, oder mit Früchten. Gesüßt mit Honig.«
»Die Süßigkeit eines reichen Mannes«, sagte Gyltha sofort.
»So was hab ich noch nicht gesehen. Ulf.«
Ihr Enkel war augenblicklich im Zimmer, was Adelia vermuten ließ, dass er an der Tür gelauscht hatte.
»Hast du das schon mal gesehen?«, fragte Gyltha ihn.
»Bonbons«, knurrte der Junge – also
hatte
er gelauscht. »Ich kauf ja dauernd Bonbons, oh ja, weiß gar nich wohin mit meinem Geld, ich …«
Während er vor sich hin grollte, wanderten seine wachen kleinen Augen über die Raute, die Fläschchen, die restlichen Wollstreifen, die vor dem Fenster trockneten, all die Spuren und Beweise, die sie aus der Klause St. Werbertha mitgebracht hatte.
Adelia breitete schnell ein Stück Stoff darüber. »Und?«
Ulf schüttelte mit überzeugender Autorität den Kopf. »Hat nich die richtige Form für unsere Gegend. Hier gibt’s bloß Stangen und Kugeln.«
»Dann verschwinde«, sagte Gyltha. Als der Junge weg war, breitete sie die Hände
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