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Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
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Sonnenfenster hereingeflogen. Sie trug ein lebendes Kind in den Krallen und setzte sich auf Adelias Brust,wo sie anfing, den Körper zu zerhacken. Ein lidloses Auge glitzerte sie herausfordernd an, während der Schnabel die Kinderleber herausriss.
    Das grässliche Bild war so lebendig, dass Adelia keuchend erwachte und einen Moment lang glaubte, ein Vogel habe die Kinder getötet.
    »Wo ist Master Simon?«, fragte sie Gyltha. Es war früher Morgen; das Westfenster der Halle blickte auf eine Wiese, die noch im Schatten des Hauses lag und zur Cam hinunter abfiel, die bereits in Sonnenlicht getaucht war und so blitzsauber aussah, sich so tief und glatt an den Weidenbäumen entlangschlängelte, dass Adelia den jähen Drang verspürte, in den Fluss zu springen und wie eine Ente darin herumzuplantschen.
    »Weggegangen. Wollte wissen, wo die Wollhändler zu finden sind.«
    Gereizt sagte Adelia: »Wir wollten doch heute zum Wandlebury Ring.« Am Vorabend waren sie sich einig gewesen, dass sie zunächst das Versteck des Mörders finden müssten.
    »Hat er auch gesagt, aber weil unser Master Braunkopf nicht raus kann, will er eben morgen hin.«
    »Mansur«, fauchte Adelia, »er heißt Mansur. Weshalb kann er nicht raus?«
    Gyltha winkte sie zum Ende der Halle und in den Laden des alten Benjamin. »Deshalb.«
    Adelia stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte durch eine der Schießscharten.
    Vor dem Tor hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Einige saßen auf dem Boden, als wären sie schon lange dort.
    »Die warten auf
Doktor
Mansur«, sagte Gyltha mit Nachdruck.
    »Deshalb könnt ihr nicht zu den Hügeln.«
    Das war ein Problem. Sie hätten es vorhersehen können, aber als sie Mansur als Arzt ausgaben, als neuen, fremdländischenArzt in einer geschäftigen Stadt, waren sie gar nicht auf die Idee gekommen, dass er sich vor Patienten nicht würde retten können. Die Nachricht von ihrer Begegnung mit dem Prior hatte sich herumgesprochen; in der Jesus Lane konnte man von Leiden geheilt werden.
    Adelia war bestürzt. »Aber wie soll ich sie denn behandeln?«
    Gyltha zuckte die Achseln. »Wie’s aussieht, sind die meisten sowieso schon halbtot. Schätze, da war der Kleine St. Peter mit seinem Latein am Ende.«
    Der Kleine St. Peter, das zarte, wundertätige Skelett, dessen Knochen die Priorin auf dem ganzen Weg von Canterbury hierher angepriesen hatte wie ein Marktschreier.
    Adelia seufzte bei dem Gedanken an ihn, an die Verzweiflung, die leidende Menschen zu ihm trieb, und an die Enttäuschung, die sie nun hierher geführt hatte. Die Wahrheit war, dass sie in den allermeisten Fällen selbst auch nicht mehr tun konnte. Kräuter, Blutegel, der ein oder andere Heiltrunk, selbst der Glaube konnte die Flut von Krankheiten nicht aufhalten, unter denen der größte Teil der Menschheit litt. Sie wünschte, es wäre anders. Bei Gott, wie sehr sie das wünschte.
    Es war jedenfalls lange her, dass sie außer in Extremfällen, wie der Prior einer gewesen war, mit lebenden Patienten zu tun gehabt hatte.
    Dennoch, vor dem Haus hatte sich Leiden angesammelt, und das konnte sie nicht einfach ignorieren. Es musste etwas geschehen. Andererseits, wenn sie dabei ertappt wurde, dass sie als Ärztin praktizierte, würde jeder Doktor in Cambridge zum Bischof laufen. Die Kirche hatte das menschliche Einmischen bei Krankheiten stets missbilligt und über Jahrhunderte hinweg gelehrt, dass Gebete und Heiligenreliquien die göttliche Art des Heilens seien und alles andere vom Teufel herrühre. Sie gestattete den Klöstern, Kranke zu behandeln, und fandsich notgedrungen mit den weltlichen Ärzten ab, solange sie ihre Grenzen nicht überschritten, aber Frauen, die an sich schon sündig waren, war die Medizin als Beruf verboten, mit Ausnahme der zugelassenen Hebammen – und die mussten aufpassen, dass man sie nicht der Hexerei bezichtigte.
    Selbst in Salerno, dem angesehensten Zentrum der Medizin, hatte die Kirche versucht, die Regel durchzusetzen, dass Ärzte im Zölibat leben sollten. Sie war damit gescheitert, ebenso wie sie damit gescheitert war, den Frauen den Zugang zum Ärzteberuf zu verbieten. Aber das war eben Salerno, die Ausnahme, die die Regel bestätigte.
    »Was sollen wir tun?«, fragte sie. Margaret, die praktischste aller Frauen, hätte es gewusst.
Es gibt immer einen Weg. Überlass das ruhig der alten Margaret
.
    Gyltha schnalzte mit der Zunge. »Was greinst du denn so? Das ist doch ein Kinderspiel. Du tust so, als wärst du die rechte

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