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Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
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aus. »Wenn er das nich kennt, dann gibt’s das hier auch nich.«
    Es war ernüchternd. Am Abend zuvor hatten sie entschieden, den Kreis der Verdächtigen auf die Pilger einzugrenzen, also nicht mehr jeden Mann in Cambridge als möglichen Täter in Betracht zu ziehen. Doch selbst wenn man Ehefrauen, Nonnen und Dienerinnen abzog, blieben immer noch siebenundvierzig, die in Frage kamen. »Aber den Händler aus Cherry Hintonkönnen wir doch wohl ausschließen? Der macht einen harmlosen Eindruck.« Doch durch Nachfragen bei Gyltha stellte sich heraus, dass Cherry Hinton westlich von Cambridge und damit auf einer Linie mit dem Wandlebury Ring lag.
    »Wir schließen niemanden aus«, hatte Simon gesagt.
    Um nicht alle siebenundvierzig Leute befragen zu müssen, hatten sie sich überlegt, die Zahl mit Hilfe der vorhandenen Beweismittel zu verringern; Simon wollte die Herkunft der Wollstreifen klären, und Adelia die des rautenförmigen Bonbons.
    Was aber offenbar nicht so einfach war.
    »Aber wir müssen davon ausgehen, dass die Seltenheit des Bonbons die Verbindung zu dem Mörder untermauern wird, wenn wir ihn erst gefunden haben«, sagte Adelia jetzt.
    Gyltha legte den Kopf schief. »Du denkst, er hat Mary damit gelockt?«
    »Ja.«
    »Das arme Lämmchen Mary, hatte Angst vor ihrem Vater – der hat sie und ihre Mutter ständig verhauen –, hatte Angst vor allem. Ist nie weit weggelaufen.« Gyltha betrachtete das Bonbon. »Hast du sie weggelockt, du Kerl?«
    Die beiden Frauen stellten es sich gemeinsam vor … eine winkende Hand, in der anderen eine fremdartige Süßigkeit, das Kind, das näher gelockt wird, ein Vogel, der auf seine Beute herabstößt …
    Gyltha eilte davon, um Ulf zu warnen, dass Männer, die Leckereien anbieten, gefährlich sind.
    Sechs Jahre alt, dachte Adelia. Ein Kind, das vor allem Angst hat, sechs Jahre mit einem brutalen Vater und dann ein grauenhafter Tod. Was kann ich tun? Was soll ich tun?
    Sie ging nach unten. »Kann ich mir Ulf mal ausleihen? Es könnte ganz hilfreich sein, wenn ich mir die Orte anschaue, wodie Kinder verschwunden sind. Außerdem würde ich gerne die Gebeine des Kleinen St. Peter untersuchen.«
    »Die können dir nich mehr viel sagen, Mädchen. Die Nonnen haben sie gekocht.«
    »Ich weiß.« Das machte man üblicherweise mit den Gebeinen von angeblichen Heiligen. »Aber Knochen können sprechen.«
    Peter war der Primus inter Pares der ermordeten Kinder, der Erste, der verschwand, und der Erste, der starb. Soweit es sich sagen ließ, war er vermutlich in Cambridge ermordet worden, was bei den anderen nicht der Fall war.
    Außerdem war sein Tod der einzige, der mit Kreuzigung in Verbindung gebracht worden war, und wenn es ihr und Simon nicht gelang, das zu widerlegen, wären sie mit ihrer Mission, die Juden zu entlasten, gescheitert, ganz gleich, wie viele Mörder sie in den Kreidehügeln aufspürten.
    Das alles erklärte sie Gyltha. »Vielleicht sind die Eltern des Jungen bereit, mit mir zu reden. Sie haben seinen Leichnam doch bestimmt noch gesehen, ehe er gekocht wurde.«
    »Walter und sein Weib? Die haben Nägel in den kleinen Händen gesehn und die Dornenkrone auf dem armen kleinen Kopf, und was anderes werden die nich sagen, weil sie nämlich sonst ’nen Batzen Geld verlieren.«
    »Sie bereichern sich am Tod ihres Sohnes?«
    Gyltha zeigte flussaufwärts. »Geh mal nach Trumpington zu ihrer Hütte, die du gar nich mehr sehen kannst vor lauter Leuten, die sich davor drängen. Die woll’n alle rein, um die Luft zu atmen, die der Kleine St. Peter geatmet hat, und um das Hemd vom Kleinen St. Peter anzufassen, was gar nich geht, weil das Hemd, das er anhatte, sein einziges war, und Walter und Ethy sitzen in der Tür und kassieren einen Penny pro Nase.«
    »Wie schäbig.«
    Gyltha hängte einen Kessel über das Feuer und drehte sich dann um.»Du hast im Leben wohl noch nie viel entbehren müssen, Mistress.« Das »Mistress« klang bedrohlich, und die freundliche Annäherung, die ihnen im Laufe des Morgens gelungen war, verpuffte.
    Adelia gab zu, dass dem so war.
    »Dann würd ich vorschlagen, du wartest, bis du sechs Kinder zu ernähren hast, außer dem, das gestorben ist, und bis du vier Tage die Woche auf den Feldern vom Kloster pflügen und ernten musst, neben deinen eigenen, nur damit du ein Dach überm Kopf hast, und putzen gehn muss Agnes auch noch. Vielleicht gefällt dir nich, was sie tun, aber es ist nich schäbig, das nennt man Überleben.«
    Adelia war sprachlos.

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