Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
Vom Netzwerk:
anderen Seite eine große Handglocke. Nachts schlief sie in der Hütte.
    Damals im Winter, als der Sheriff versucht hatte, die Juden nachts aus der Burg zu schmuggeln, weil er glaubte, Agnes schliefe, hatte sie beide Waffen eingesetzt. Der Speer hätte fast einen der Männer des Sheriffs durchbohrt, und die Glocke riss die Stadt aus dem Schlaf. Die Juden wurden rasch zurück in die Burg gescheucht.
    Auch die Seitenausgänge der Burg waren bewacht, und zwar von Gänsen, die dort in einem Verschlag gehalten wurden, damit sie losschnatterten, wenn sich irgendwer hinausschleichen wollte, so wie die kapitolinischen Gänse die Römer gewarnt hatten, als die Gallier sich hereinschleichen wollten. Einmal hatten die Männer des Sheriffs versucht, die Gänse oben von den Burgmauern aus zu erschießen, doch das Federvieh hatte einen derart ohrenbetäubenden Lärm veranstaltet, dass erneut die ganze Stadt alarmiert wurde.
    Als Adelia mit Simon und Mansur die steile, gewundene, befestigte Straße zur Burg hochstieg, äußerte sie ihr Erstaunen darüber, dass es Bürgern erlaubt war, sich so lange über die Obrigkeit hinwegzusetzen. In Sizilien hätten Soldaten des Königs das Problem im Handumdrehen gelöst.
    »Und ein Massaker veranstaltet?«, fragte Simon. »Wo könnte man die Juden hinbringen, ohne eine ähnliche Lage heraufzubeschwören? Das ganze Land glaubt, dass die Juden von Cambridge Kinder kreuzigen.«
    Er war heute bedrückt und, so Adelias Verdacht, sehr wütend. »Stimmt.« Sie dachte darüber nach, wie zurückhaltend der König von England in dieser Angelegenheit agierte. Von einem Mann wie ihm, einem Mann von königlichem Geblüt, hätte sie erwartet, dass er schreckliche Rache an den Menschen von Cambridge nimmt, weil sie einen seiner einträglichsten Juden umgebracht hatten.
    Immerhin war Henry für den Tod Beckets verantwortlich, im Grunde war er ein ganz normaler Tyrann. Doch bislang hatte er Milde walten lassen.
    Auf die Frage, was ihrer Meinung nach geschehen würde, hatte Gyltha geantwortet, die Stadt mache sich auf eine saftige Geldbuße für den Tod von Chaim gefasst, aber sie rechne nicht damit, dass es zu Massenhinrichtungen kommen würde. Der jetzige König war ein duldsamer König, solange man nicht in seinen Jagdrevieren wilderte. Oder ihn unerträglich reizte, wie Erzbischof Thomas das getan hatte.
    »Ist nich mehr wie damals, als seine Ma und sein Onkel Stephen sich gegenseitig bekriegt haben«, hatte sie gesagt. »Hinrichtungen? Da konnte irgendein Herr Baron angaloppiert kommen – egal, auf welcher Seite er stand, egal, auf welcher Seite du standst – und dich mir nix, dir nix aufknüpfen, bloß weil du dich am Hintern gekratzt hast.«
    »Völlig zu Recht«, hatte Adelia erwidert. »Eine ekelige Angewohnheit.« Die beiden verstanden sich allmählich besser.
    Der Krieg zwischen Matilda und Stephen, sagte Gyltha, hatte sich sogar bis in die Sümpfe ausgedehnt. Die Isle of Ely mit ihrer Kathedrale war so oft in neue Hände gefallen, dass niemand mehr wusste, wer nun Bischof war und wer nicht. »Als wären wir armen Leute ein Kadaver, der von Wölfen zerrissen wird. Und als Geoffrey de Mandeville hier sein Unwesen trieb …« An der Stelle schüttelte Gyltha den Kopf und verstummte. Dann sagte sie: »Dreizehn Jahre, dreizehn lange Jahre, und Gott und die Heiligen haben geschlafen und uns unserem Schicksal überlassen.«
    »Dreizehn Jahre, als Gott und Seine Heiligen schliefen.«
Diesen Satz über den Bürgerkrieg hatte Adelia seit ihrer Ankunft in England schon etliche Male gehört. Die Leute erbleichten auch jetzt noch, wenn sie daran zurückdachten. Doch mit der Thronbesteigung von Henry II war der Krieg zu Ende gewesen. Und seit nunmehr zwanzig Jahren lebte England in Frieden.
    Der Plantagenet-König war raffinierter, als sie gedacht hatte. Vielleicht hatte sie ihn ja unterschätzt.
    Sie kamen um die letzte Biegung der Straße und sahen sich der Burg gegenüber.
    Die einfache Hügelburg, die William der Eroberer zum Schutz der Furt hatte errichten lassen, war längst verschwunden. Die Holzpalisaden waren durch eine wuchtige Außenmauer ersetzt worden, der Hauptturm in die Gesamtanlage eingefasst, Kirche, Vieh- und Pferdeställe, Kaserne, Frauenquartiere, Küche, Wäscherei, Gemüse- und Kräutergarten, Melkhaus, Turnierplatz, Galgen und Kerker, alles, was ein Sheriff brauchte, um die Geschicke einer einigermaßen großen, wohlhabenden Stadt angemessen zu leiten. Auf einer Seite war der wachsende

Weitere Kostenlose Bücher