Die Totenleserin1
Turm,der den niedergebrannten ersetzen würde, mit Gerüsten und Plattformen verkleidet.
Draußen vor den Toren standen zwei Wachsoldaten auf ihre Speere gelehnt und plauderten mit Agnes, die strickend auf einem Schemel vor ihrem Bienenkorb hockte. Ein Mann saß auf dem Boden, den Kopf gegen die Burgmauer gelegt.
Adelia stöhnte. »Ist der denn allgegenwärtig?«
Beim Anblick der Neuankömmlinge sprang Roger aus Acton auf, hob ein an einen Stock genageltes Holzbrett hoch, das neben ihm gelegen hatte, und begann, lauthals seine Botschaft zu verkünden. Auf dem Brett stand mit Kreide geschrieben: »Betet für den Kleinen St. Peter, der von den Juden gekreuzigt wurde.«
Gestern hatte er die Pilger im Kloster St. Radegund beehrt, heute würde der Bischof den Sheriff besuchen, und Acton wollte ihm anscheinend auflauern.
Wieder schien er Adelia nicht wiederzuerkennen, ebenso wenig wie die beiden Männer in ihrer Begleitung, obwohl Mansur nun wahrhaftig auffällig war. Er sieht keine Menschen, dachte sie, nur Futter für die Hölle. Sie bemerkte, dass die Soutane des Mannes aus Kammgarn war.
Vielleicht war er enttäuscht, dass er den Bischof noch immer nicht piesacken konnte, aber er beschied sich mit dem, was ihm unter die Augen kam. »Sie haben den armen Jungen gequält, bis Blut floss«, brüllte er ihnen zu. »Sie haben mit den Zähnen geknirscht und ihn Jesus den falschen Propheten genannt. Sie haben ihn auf vielerlei Weise gefoltert und dann gekreuzigt …«
Simon ging zu den Soldaten und bat, den Sheriff sprechen zu dürfen. Sie seien aus Salerno, sagte er. Er musste die Stimme erheben, um sich Gehör zu verschaffen.
Der ältere Wachmann war unbeeindruckt. »Wo soll’n dassein?« Er drehte sich zu dem brüllenden Geistlichen um. »Ruhe dahinten!«
»Prior Geoffrey hat uns gebeten, dem Sheriff unsere Aufwartung zu machen.«
»Was? Ich kann Euch nicht verstehen, bei dem Krach, den der Spinner macht.«
Der jüngere Soldat merkte auf. »Moment mal, ist das da der braune Doktor, der den Prior geheilt hat?«
»Just der.«
Roger aus Acton hatte Mansur jetzt auch gesehen und kam näher. Sein Atem war übelriechend. »Sarazene, erkennst du unseren Herrn Jesus Christus an?«
Der ältere Wachsoldat verpasste ihm eine Ohrfeige. »Schnauze.« Er wandte sich wieder an Simon. »Und das Viech?«
»Der Hund von Mylady.«
Ulf hatte trotz seines Widerstandes zu Hause bleiben müssen, doch der Aufpasser, darauf hatte Gyltha bestanden, sollte Adelia überallhin begleiten. »Er ist kein Beschützer«, hatte Adelia protestiert. »Als sich mir diese beiden verdammten Kreuzritter in den Weg gestellt haben, hat er sich hinter mir verdrückt. Er ist ein Drückeberger.«
»Er soll ja auch keinen beschützen«, hatte Gyltha gesagt. »Er soll aufpassen.«
»Ich denke, die können wir reinlassen, was, Rob?« Der Wachmann zwinkerte der Frau vor der Weidenhütte zu. »Einverstanden, Agnes?«
Dennoch riefen sie noch ihren Hauptmann, der sich vergewisserte, dass die drei auch keine Waffen bei sich trugen, bevor sie durch die kleine Pforte im Tor eingelassen wurden. Acton, der sich mit hineinmogeln wollte, musste zurückgehalten werden. »Tötet die Juden!«, rief er. »Tötet die Kreuziger!«
Der Grund für die Vorsicht wurde offensichtlich, als sie denInnenhof betraten. Etwa fünfzig Juden waren dort und genossen die Sonne. Die Männer spazierten umher und unterhielten sich, die meisten Frauen standen in einer Ecke und plauderten oder spielten mit ihren Kindern. So wie alle Juden in einem christlichen Land waren sie normal gekleidet, bis auf den einen oder anderen, der den kegelförmigen Judenhut trug.
Doch was diese Gruppe eindeutig als
die
Juden kenntlich machte, war ihre ärmliche Erscheinung. Adelia erschrak bei dem Anblick. Auch in Salerno gab es arme Juden, ebenso wie es arme Sizilianer, Griechen, Moslems gab, doch deren Armut war weniger auffällig, weil sie von ihren reicheren Glaubensbrüdern Almosen erhielten. Tatsächlich vernahm man unter den Christen in Salerno den leicht abfälligen Satz »Juden haben keine Bettler«. Wohltätigkeit war bei allen großen Religionen ein Gebot; im Judentum galt: »Gebt Ihm, was Sein ist, denn du und was du hast, sind Sein.« Gnade wurde eher dem Geber zuteil als dem Empfänger.
Adelia erinnerte sich an einen alten Mann, der die Schwester ihrer Ziehmutter fast zur Raserei getrieben hatte, weil er sich nie für die Mahlzeiten bedankte, die er bei ihr in der Küche eingenommen hatte.
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