Die Totenleserin1
»Esse ich denn, was Euch gehört?«, fragte er stets. »Ich esse, was Gott gehört.«
Die Wohltätigkeit des Sheriffs gegenüber seinen ungebetenen Gästen war offenbar weniger groß. Die Menschen waren abgemagert. Die Burgküche, so dachte Adelia, hielt sich wahrscheinlich nicht an die jüdischen Speisegesetze, weshalb die Mahlzeiten oftmals unangetastet bleiben mussten. Die Kleidung, in der diese Menschen im Jahr zuvor aus ihren Häusern geflohen waren, fiel schon fast auseinander.
Einige Frauen blickten erwartungsvoll auf, als Adelia und ihre Begleiter den Hof überquerten. Die Männer unterhielten sich zu angeregt, um sie zu bemerken.
Der jüngere Soldat vom Tor führte die drei über eine Zugbrücke, unter dem Fallgitter hindurch und über einen weiteren Hof.
In der kühlen, geräumigen Halle, die sie nun betraten, herrschte hektische Betriebsamkeit. Aufgebockte Tische erstreckten sich über die ganze Länge, bedeckt mit Dokumenten und Schriftstücken und Kerbhölzern. Schreiber, die über den Papieren brüteten, unterbrachen immer wieder ihre Arbeit und eilten zu einem Podium, wo ein dicker Mann in einem wuchtigen Sessel an einem weiteren Tisch mit noch mehr Dokumenten, Schriftrollen und Kerbhölzern saß, die zu bedrohlich schwankenden Stapeln anwuchsen.
Adelia hatte keine Vorstellung von der Bedeutung eines Sheriffs, aber Simon hatte ihr erklärt, dass dem Mann die wichtigste Rolle neben dem König zukam, dessen Stellvertreter im County er war. Gemeinsam mit dem Diözesanbischof übte er einen Großteil der Rechtsprechung aus, und er war allein für die Eintreibung der Steuern verantwortlich. Außerdem hatte er die Aufgabe, den Frieden im County zu sichern, Verbrecher aufzuspüren und auf die Einhaltung des sonntäglichen Handelsverbots zu achten. Er stellte sicher, dass jeder den Kirchenzehnt bezahlte und die Kirche ihre Abgaben an die Krone leistete. Er kümmerte sich um die Hinrichtungen, überstellte das Eigentum der Gehängten an den König, wie auch das von Waisen, flüchtigen Rechtsbrechern und Gesetzlosen, und er sorgte dafür, dass Schatzfunde in der Staatskasse landeten. Zweimal jährlich lieferte er das gesammelte Geld samt der dazugehörigen Buchführung beim Schatzmeister in Winchester ab, wo, wie Simon sagte, ein einziger fehlender Penny ihn die Stellung kosten konnte.
»Bei so viel Arbeit, wieso will denn da überhaupt noch einer das Amt übernehmen?«, fragte Adelia.
»Der Sheriff erhält von allem einen bestimmten Anteil«, sagte Simon.
Gemessen an der edlen Kleidung des Sheriffs von Cambridgeshire und dem Goldschmuck an seinen Fingern musste dieser Anteil beträchtlich sein, doch im Augenblick war zu bezweifeln, ob Sheriff Baldwin ihn für ausreichend hielt. Er sah gelinde gesagt mitgenommen aus, schon beinahe verzweifelt.
Er starrte den Soldaten, der die Besucher ankündigte, mit abwesend leerem Blick an und sagte: »Sehen sie denn nicht, dass ich zu tun habe? Wissen die nicht, dass die Assise bevorsteht?«
Ein großer, massiger Mann, der neben dem Sheriff über einige Papiere gebeugt stand, richtete sich auf. »Ich glaube, Mylord, diese Leute könnten sich in der Angelegenheit der Juden als hilfreich erweisen«, sagte Sir Rowley Picot.
Er zwinkerte Adelia zu. Sie erwiderte seinen Blick ohne Wohlwollen. Noch so einer, der allgegenwärtig war, wie Roger aus Acton. Und vielleicht gefährlicher.
Gestern war Simon in einer Nachricht von Prior Geoffrey vor dem Steuereintreiber des Königs gewarnt worden: »… der Mann war mindestens zweimal zu der Zeit in der Stadt, als ein Kind verschwand. Möge der gütige Herr mir verzeihen, wenn ich zu Unrecht Verdächtigungen erhebe, doch es ist unsere Pflicht, Vorsicht walten zu lassen, bis wir wissen, wem wir trauen können.«
Simon glaubte, dass der Prior Grund für seinen Argwohn hatte. »Aber der Mann ist nicht verdächtiger als irgendwer sonst.« Er sagte, bisher habe der Steuereintreiber auf ihn einen guten Eindruck gemacht. Adelia, die Gelegenheit gehabt hatte, hinter Sir Rowleys freundliche Fassade zu blicken, als er ihr seine Gegenwart bei der Untersuchung der toten Kinder aufgezwungen hatte, konnte das nicht behaupten. Sie fand ihn beunruhigend.Allem Anschein nach hatte er die Burg im Griff. Der Sheriff starrte ihn hilfesuchend an, unfähig, sich mit irgendetwas anderem zu befassen als mit seinen unmittelbaren Problemen.
»Wissen die nicht, dass eine Assise bevorsteht?«
Picot wandte sich an Simon. »Mylord möchte wissen, was
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