Die Totenleserin1
größer, als Adelia von einem Ritterlehen erwartet hätte. Wenn das im Südosten liegende und von keinem der Fenster aus zu sehende Gut, das Sir Joscelin bewohnte und das den Nonnen gehörte, genauso groß war, dann hatte sich der Einsatz als Kreuzritter für die beiden reichlich ausgezahlt.
Zwei Männer traten ein. Yehuda Gabirol war jung und seine schwarzen Schläfenlocken ringelten sich an hohlen Wangen, die eine iberische Blässe zeigten.
Der unerwartete Gast war alt, und der Aufstieg hatte ihm sichtlich Mühe bereitet. Er hielt sich am Türpfosten fest, während er sich Simon keuchend vorstellte. »Benjamin ben Rav Moshe. Und wenn Ihr Simon aus Neapel seid, habe ich Euren Vater gekannt. Der alte Eli lebt doch noch, oder?«
Simons Verbeugung war ungewöhnlich kurz, ebenso seine Vorstellung von Adelia und Mansur, denn er nannte lediglich ihre Namen, ohne ihre Anwesenheit zu erklären.
Der alte Mann nickte ihnen zu, noch immer schnaufend. »Seid ihr diejenigen, die in meinem Haus wohnen?«
Da Simon keine Anstalten machte zu antworten, sagte Adelia:
»Ja. Ich hoffe, es stört Euch nicht.«
»Mich stören?«, sagte der alte Benjamin traurig. »Es ist hoffentlich in gutem Zustand?«
»Ja. Und es tut dem Haus gut, wenn es bewohnt wird, glaube ich.«
»Gefallen Euch die Fenster in der Halle?«
»Sehr hübsch. Äußerst ungewöhnlich.«
Simon sprach den jüngeren Mann an. »Yehuda Gabirol, kurz vor dem Pessachfest vor einem Jahr habt Ihr die Tochter von Chaim ben Eliezer hier in Cambridge geheiratet.«
»Die Ursache all meiner Schwierigkeiten«, sagte Yehuda Gabirol düster.
»Der Junge ist dafür den weiten Weg aus Spanien gekommen«, sagte Benjamin. »Ich habe die Heirat vermittelt. Eine gute Verbindung, wenn ich das selbst so sagen darf. Ist es denn die Schuld des
Schadchan
, dass sie so eine unglückselige Wendung genommen hat?«
Simon überging ihn weiter, hielt den Blick auf Yehuda gerichtet. »Ein Kind aus dieser Stadt ist an dem Tag verschwunden. Vielleicht könnte Master Gabirol Licht in die Sache bringen, was dem Jungen widerfahren ist.«
So hatte Adelia Simon noch nie erlebt. Er war wahrhaftig wütend.
Beide Männer brachen auf Jiddisch in einen Wortschwall aus. Dann hob sich die dünne Stimme des Jüngeren über Benjamins tiefere: »Woher soll ich das wissen? Bin ich der Hüter englischer Kinder?«
Simon schlug ihm ins Gesicht.
Ein Sperber landete vor dem Westfenster und flog gleich wieder davon, aufgeschreckt durch das klatschende Geräusch der Ohrfeige. Auf Yehudas Wange malten sich Fingerspuren ab.
Mansur trat vor, um im Fall einer Vergeltung einschreiten zu können, doch der junge Mann vergrub das Gesicht in den Händen und ließ den Kopf hängen. »Was hätten wir denn machen sollen? Was?«
Adelia blieb unbemerkt am Fenster stehen, während die drei Juden um Fassung rangen und schließlich drei Schemel in die Mitte des Raumes zogen, auf denen sie sich niederließen. Selbst dafür gibt es eine Zeremonie, dachte sie.
Dann ergriff Benjamin das Wort, während der junge Yehuda sich weinend vor und zurück wiegte.
Es war eine gute Hochzeit gewesen, sagte der alte Benjamin, eine Verbindung zwischen Geld und Kultur, zwischen der Tochter eines reichen Mannes und diesem jungen spanischen Gelehrten vorzüglicher Herkunft, den Chaim als
eidam af kest
, als Schwiegersohn, in sein Haus aufnehmen und ihm eine Mitgift in Höhe von zehn Shilling geben wollte …
»Weiter«, sagte Simon.
»Es war ein schöner Frühlingstag, die
Chupa
in der Synagoge war mit Schlüsselblumen geschmückt. Ich selbst habe das Glas zertreten …«
»Weiter.«
Dann ging es zurück zur Feier in Chaims Haus, die, so groß warChaims Reichtum, eine ganze Woche hatte dauern sollen. Pfeifen, Trommeln, Fiedeln, Zimbeln, Tische, die sich unter der Last der Speisen bogen, Weinbecher, die unablässig gefüllt wurden, die Erhebung der Braut unter weißem, golddurchwirktem Seidenstoff, Reden – das alles auf der Wiese am Fluss, denn im Haus wäre kaum für alle Gäste Platz gewesen, von denen einige über tausend Meilen gereist waren, um bei der Hochzeit dabei zu sein.
»Vielleicht wollte Chaim ja auch vor der Stadt ein ganz kleines bisschen protzen«, gab Benjamin zu.
Ganz bestimmt, dache Adelia. Vor Bürgern, die ihn nicht in ihr Haus einladen würden, aber keine Bedenken hatten, sich von ihm Geld zu leihen? Natürlich wollte er das.
»Weiter.« Simon war unerbittlich, doch in dem Augenblick hob Mansur eine Hand und
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