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Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
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fürchten und hassen. Im ersten Jahrhundert, unter Rom, waren die ersten Christen diejenigen, die man beschuldigte, das Blut und Fleisch von Kindern zu rituellen Zwecken zu benutzen.«
    Jetzt galten schon seit Jahrhunderten die Juden als Kinderfresser. Der Glaube war in der christlichen Mythologie so tief verwurzelt und die Juden hatten schon so oft darunter gelitten, dass es für sie eine unwillkürliche Reaktion war, den Leichnam eines christlichen Kindes zu verstecken, der auf einer jüdischen Wiese gefunden wurde.
    »Was blieb uns denn anderes übrig?«, rief Benjamin. »Sagt mir, was wir hätten tun sollen. Jeder bedeutende Jude in England war an diesem Abend bei uns. Rabbi David war aus Paris gekommen, Rabbi Meir aus Deutschland, große Deuter der Thora, Scholem aus Chester hatte seine Familie mitgebracht. Hätten wir zulassen sollen, dass solche hohen Herren in Stücke gerissen werden? Wir brauchten Zeit, damit sie fliehen konnten.«
    Während seine bedeutenden Gäste also mit Pferd und Wagen in die Nacht verschwanden, wickelte Chaim den Leichnam in ein Tischtuch ein und brachte ihn in den Keller.
    Wie und warum der kleine Körper überhaupt auf die Wiese gekommen war, wer dem Kind das angetan hatte, was ihm angetan worden war, derlei Fragen kamen den verbliebenen Juden von Cambridge offenbar gar nicht in den Sinn. Ihre Hauptsorge war, wie sie die Leiche wieder loswerden konnten. Es fehlte ihnen nicht an Menschlichkeit, davon war Adelia überzeugt, aber jeder von ihnen hatte nur einen einzigen Gedanken, nämlich sein Leben und das seiner Familie zu retten. Und sie begingen einen verhängnisvollen Fehler.
    »Als der Tag dämmerte«, sagte Benjamin, »waren wir immernoch nicht weitergekommen – wie sollten wir auch vernünftig überlegen können? Nach dem vielen Wein, bei unserer Angst. Chaim war es, der schließlich für uns entschied, Gott sei seiner Seele gnädig. ›Geht nach Hause‹, sagte er zu uns, ›geht nach Hause und tut so, als wäre nichts geschehen. Ich kümmere mich um die Sache, zusammen mit meinem Schwiegersohn.‹« Benjamin hob seine Kappe und fuhr sich mit gespreizten Fingern über die Kopfhaut, als hätte er noch Haare darauf. »Jahwe vergib uns, denn genau das haben wir getan.«
    »Und wie haben Chaim und sein Schwiegersohn sich um die Sache gekümmert?« Simon beugte sich zu Yehuda vor, der wieder das Gesicht in den Händen verbarg. »Es war inzwischen hell, ihr konntet die Leiche nicht ungesehen aus dem Haus schmuggeln.«
    Stille.
    »Vielleicht«, fuhr Simon fort, »vielleicht ist Chaim da das Loch in seinem Keller eingefallen.«
    Yehuda blickte auf.
    »Was ist das für ein Loch?«, fragte Simon fast gleichgültig.
    »Ein Abort? Ein Fluchtweg?«
    »Ein Abflussloch«, sagte Yehuda widerwillig. »Durch den Keller fließt ein Bach.«
    Simon nickte. »Im Keller ist also ein Abflussloch? Ein großes Abflussloch? Das in den Fluss führt?« Sein Blick huschte ganz kurz zu Adelia, die ihm zunickte. »Das Loch mündet unter dem Steg, wo Chaims Boote liegen?«
    »Woher wisst Ihr das?«
    »Also«, sagte Simon noch immer sanft, »habt ihr den Leichnam in das Loch geschoben.«
    Yehuda weinte wieder und pendelte mit dem Oberkörper vor und zurück. »Wir haben gebetet. Wir standen in dem dunklen Keller und haben die Totengebete gesprochen.«
    »Ihr habt die Totengebete gesprochen? Gut, das ist gut. Das wird dem Herrn gefallen.
Aber ihr habt nicht nachgesehen, ob der Leichnam mit der Strömung abgetrieben ist, sobald er im Fluss war
.
«
    Yehuda hörte vor Verblüffung auf zu weinen. »Ist er das denn nicht?«
    Simon stand auf, hob die Arme flehend zum Herrn, der solche Dummköpfe zuließ.
    »Der Fluss wurde abgesucht«, warf Adelia nur für Simons und Mansurs Ohren in ihrem Heimatdialekt ein. »Die ganze Stadt hat mitgemacht. Selbst wenn die Leiche an einem Pfahl unter dem Bootssteg hängen geblieben wäre, bei einer so gründlichen Suche wäre sie doch gefunden worden.«
    Simon schüttelte den Kopf. »Sie hatten alles besprochen«, erwiderte er müde in derselben Sprache. »Wir sind Juden, Doktor. Wir reden. Wir denken über den Ausgang nach, die Folgen, wir fragen uns, ob etwas für den Herrn annehmbar ist und ob wir es dennoch tun sollten. Ich sage Euch, als sie mit dem ganzen Gerede fertig waren und eine Entscheidung getroffen hatten, waren die Sucher schon wieder weg.« Er seufzte. »Sie sind Esel und schlimmer als Esel, aber sie haben den Jungen nicht umgebracht.«
    »Ich weiß.« Obwohl ihnen

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