Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
Vom Netzwerk:
das kein Gericht glauben würde. Aus berechtigter Angst um ihr eigenes Leben hatten Yehuda und sein Schwiegervater eine verzweifelte Maßnahme ergriffen und sie schlecht ausgeführt. Es hatte ihnen nur ein paar Tage Gnadenfrist eingebracht, während derer die Leiche, die sich am Bootssteg unter Wasser verfangen hatte, allmählich anschwoll, bis sie sich schließlich von allein wieder befreite und an die Oberfläche trieb.
    Sie wandte sich an Yehuda, denn sie konnte nicht länger warten. »Habt Ihr Euch den Leichnam näher angesehen, bevor Ihrihn in den Kanal schobt? In welchem Zustand war er? War er verstümmelt? War er bekleidet?«
    Yehuda und Benjamin betrachteten sie angewidert. »Habt Ihr uns einen weiblichen Ghul mitgebracht?«, wollte Benjamin von Simon wissen.
    »Ghul?
Ghul?«
Simon war kurz davor, erneut zuzuschlagen, und Mansur hob eine Hand, um ihn daran zu hindern. »Ihr stopft einen armen kleinen Jungen in ein Abflussloch und nennt sie einen Ghul?«
    Adelia verließ den Raum, während Simon weiter wetterte. Es gab einen Menschen hier in der Burg, der ihr sagen konnte, was sie wissen wollte.
    Als sie auf dem Weg in den Hof die Halle durchquerte, bemerkte sie der Steuereintreiber. Er ließ den Sheriff einen Moment allein, ging zu seinem Knappen und gab ihm eine Anweisung.
    »Dieser Sarazene ist aber nicht bei ihr, oder?«, fragte ein nervöser Pipin, dem noch immer der Rücken schmerzte.
    »Beobachte einfach, mit wem sie redet.«
    Adelia schritt über den sonnenbeschienenen Hof zu der Ecke, wo die jüdischen Frauen versammelt waren. Sie erkannte diejenige, zu der sie wollte, an ihrer Jugend und daran, dass ihr als Einziger ein Stuhl zum Sitzen gegeben worden war. Und an dem aufgeblähten Bauch. Mindestens im achten Monat, schätzte Adelia.
    Sie verbeugte sich vor Chaims Tochter. »Mistress Dina?«
    Dunkle Augen, übergroß und argwöhnisch, blickten sie an.
    »Ja?«
    Die junge Frau war zu mager als in ihrem Zustand gut war. Der gewölbte Bauch hätte auch eine Geschwulst an einer schlanken Pflanze sein können. Tiefe Augenhöhlen und hohle Wangen hoben sich dunkel auf einer papierdünnen Haut ab.
    Die Ärztin in Adelia dachte: Du brauchst etwas aus Gylthas Küche, ich werde dafür sorgen.
    Sie stellte sich als Adelia vor, Tochter von Gerschom aus Salerno. Ihr Ziehvater war zwar ein vom Glauben abgefallener Jude, aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, seine oder ihre eigene Glaubensferne zur Sprache zu bringen. »Kann ich Euch kurz sprechen?« Sie sah die anderen Frauen an, die allmählich näher kamen. »Allein?«
    Dina saß einen Augenblick reglos da. Sie war zum Schutz gegen die Sonne in einen fast durchsichtigen Stoff gehüllt, und auch ihr kunstvoller Kopfschmuck war nichts, was man jeden Tag trug. Mit Perlen verzierte Seide lugte unter dem alten Tuch hervor, das sie um die Schultern geschlungen hatte. Adelia dachte mitleidig: Sie trägt die Kleidung, in der sie geheiratet hat.
    Schließlich wurden die anderen Frauen mit einem Wink verscheucht; obwohl auf der Flucht, obwohl verwaist, genoss Dina unter ihren Geschlechtsgenossinnen nach wie vor das Ansehen der Tochter des reichsten Juden in ganz Cambridgeshire. Und sie langweilte sich. Nachdem sie nun schon ein Jahr mit den anderen Frauen in der Burg eingepfercht war, hatte sie bestimmt längst alles gehört, was sie zu sagen hatten – und das mehrmals.
    »Ja?« Die junge Frau hob den Schleier. Sie war vielleicht sechzehn, höchstens, und hübsch, aber ihr Gesicht hatte einen verbitterten Ausdruck angenommen. Als sie hörte, was Adelia von ihr wollte, wandte sie den Blick ab. »Darüber möchte ich nicht reden.«
    »Der wahre Mörder muss gefasst werden.«
    »Sie sind alle Mörder.« Sie legte den Kopf schief, als lauschte sie auf etwas, und hob einen Finger, damit Adelia es ihr gleichtat.
    Ganz schwach, von der anderen Seite der Burgmauern, waren Rufe zu vernehmen, die darauf schließen ließen, dass Roger aus Acton auf die Ankunft des Bischofs reagierte. »Tötet die Juden«, war deutlich zu verstehen.
    Dina sagte: »Wisst Ihr, was sie mit meinem Vater gemacht haben? Mit meiner Mutter?« Das junge Gesicht verzog sich, wurde noch jünger. »Ich vermisse meine Mutter. Ich vermisse sie so.«
    Adelia kniete sich neben sie, nahm die Hand des Mädchens und legte sie an ihre Wange. »Sie würde wollen, dass Ihr tapfer seid.«
    »Ich kann nicht.« Dina neigte den Kopf nach hinten und ließ den Tränen freien Lauf.
    Adelia blickte zu den anderen Frauen hinüber,

Weitere Kostenlose Bücher