Die Totenleserin1
die nervös etwas abseits standen, und schüttelte den Kopf, damit sie nicht näher kamen. »Doch, Ihr könnt«, sagte sie. Sie legte Dinas Hand und ihre eigene auf den schwangeren Bauch. »Eure Mutter würde wollen, dass Ihr für ihr Enkelkind tapfer seid.«
Doch in Dinas Trauer, die so plötzlich hervorgebrochen war, mischte sich Panik. »Sie werden das Baby auch umbringen.« Sie riss die Augen weit auf. »Hört Ihr sie denn nicht? Sie brechen hier ein. Sie brechen ein.«
Wie grässlich musste es für sie sein. Adelia hatte sich die Isolation vorgestellt, sogar die Langeweile, aber nicht das Warten von Tag zu Tag, wie ein Tier, das mit einem Bein in der Falle steckt und auf die Wölfe wartet. Das Rudel da draußen konnte man nicht vergessen. Roger aus Actons Geheul erinnerte sie unaufhörlich daran.
Ihre Versuche, die junge Frau zu trösten, blieben wirkungslos. »Der König wird das nicht dulden.« Und: »Euer Ehemann wird Euch beschützen.«
»Der!«
Die Verachtung in diesem Wort trocknete ihre Tränen.
Galt die Ablehnung dem König? Oder dem Ehemann? Die junge Frau hatte den Mann, den sie ehelichen sollte, wahrscheinlich erst am Tag der Hochzeit zu sehen bekommen. Adelia hatte diesen Brauch nie gutgeheißen. Das jüdische Gesetz erlaubte es nicht, eine junge Frau gegen ihren Willen zu verheiraten, aber das bedeutete in den meisten Fällen nur, dass sie nicht gezwungen werden durfte, einen Mann zu heiraten, den sie nicht ausstehen konnte. Adelia selbst war der Zwangsheirat entgangen, weil ihr freisinniger Ziehvater Verständnis für ihren Wunsch hatte, allein zu bleiben. »Gute Ehefrauen gibt es reichlich, Gott sei Dank«, hatte er gesagt, »aber nur wenige gute Ärzte. Und eine gute Ärztin ist nicht mit Gold aufzuwiegen.«
In Dinas Fall verhießen ein von Grauen gezeichnetes Hochzeitsfest und die anschließende Gefangenschaft in der Burg nicht gerade ungetrübtes Eheglück.
»Hört zu«, sagte Adelia eindringlich, »wenn Ihr nicht wollt, dass Euer Kind den Rest seines Lebens in dieser Burg verbringt und ein Mörder weiter frei herumläuft und noch mehr Kinder umbringt, dann müsst Ihr mir sagen, was ich wissen will.« Aus purer Verzweiflung fügte sie hinzu: »Verzeiht mir, aber in gewissem Sinne hat er auch Eure Eltern umgebracht.«
Schöne Augen mit nassen Wimpern blickten sie an, als wäre sie einfältig. »Aber deshalb haben sie es doch getan. Wisst Ihr das denn nicht?«
»Was?«
»Warum sie den Jungen getötet haben. Wir wissen das. Sie haben ihn nur getötet, damit sie uns dafür die Schuld geben können. Warum hätten sie die Leiche sonst in unseren Garten legen sollen?«
»Nein«, sagte Adelia.
»Nein.«
»Aber natürlich.« Dinas Mund verzog sich zu einem hässlichenHohngrinsen. »Das war alles geplant. Dann haben sie den Pöbel angestachelt: Tötet die Juden. Tötet Chaim den Wucherer. Das haben sie geschrien, und das haben sie getan.«
»Tötet die Juden«,
echote es wie von einem Papagei vom Tor her.
»Es sind seitdem noch mehr Kinder gestorben«, sagte Adelia. Zu ihrem Erstaunen war ihr ein neuer Gedanke gekommen.
»Auch die. Auch die wurden getötet, damit der Pöbel einen Vorwand hat, uns Übrige aufzuhängen.« Dina war unerbittlich. Dann war sie es nicht mehr: »Wusstet Ihr, dass meine Mutter sich schützend vor mich gestellt hat? Wusstet Ihr das? Dass sie deshalb in Stücke gerissen wurde und nicht ich?«
Plötzlich bedeckte sie das Gesicht und schaukelte vor und zurück, genau wie ihr Mann es Minuten zuvor getan hatte, nur dass Dina für ihre Toten betete:
»Oseh Schalom bimeromaw hu jaaeseh Schalom alejnu weal-kal-Jiserael. Amejn.
«
»Amejn.«
Er, der Frieden schafft in seinen Höhen, er möge Frieden schaffen über uns und über ganz Israel. Und darauf sprecht: Amen! Wenn es Dich gibt, Gott, betete Adelia, so lass es geschehen.
Natürlich
mussten
diese Menschen ihr Unglück als gezielt eingefädelt betrachten, als eine Verschwörung von
gojim
, die Kinder töteten, wenn sie dadurch Juden töten konnten. Dina fragte nicht warum. Die Geschichte war für sie Antwort genug.
Behutsam, aber entschieden zog Adelia Dinas Hände nach unten, so dass sie dem Mädchen ins Gesicht blicken konnte. »Hört mir zu, Mistress. Ein Mann hat diese Kinder getötet,
einer
. Ich habe ihre Körper gesehen, und er bringt ihnen so grässliche Verletzungen bei, dass ich Euch die Einzelheiten ersparen werde. Er tut das, weil er Gelüste hat, die uns fremd sind, weil er nicht menschlich ist nach
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